Der Mond im See
durchweicht, ich hatte mir ja nicht die Zeit genommen, einen Regenmantel zu holen, die Haare hingen mir naß ins Gesicht, und einen blutigen Kratzer hatte ich auch auf der Wange, was ich nicht sehen, aber spüren konnte, denn ich war in der Dunkelheit gegen einen Baumstamm gestolpert. Ich mußte das Idealbild eines gejagten Verbrechers darstellen, wie ihn kein Filmregisseur sich besser wünschen konnte.
»Wo kommen Sie her?« herrschte mich denn auch der Sheriff gleich an.
Und ich, gehetzt und verzweifelt, bellte wütend zurück: »Woher glauben Sie, Wachtmeister? Von einem Sommernachtsball?«
Wir blitzten uns wütend an, aber da trat Ilona zwischen uns und hob beruhigend die Hand. »Ich habe Wachtmeister Schnyder schon kurz die Tatsachen mitgeteilt. Soweit wir von Tatsachen sprechen können. Wir wissen ja nichts. Nur eben, daß der Junge verschwunden ist.«
»Zusammen mit dieser Frauensperson«, grollte der Sheriff dazwischen.
»Ja«, fuhr Ilona fort. »Ich habe auch gesagt, daß wir eigentlich nichts wissen. Es ist immer noch möglich, daß die Pflegerin zusammen mit dem Jungen irgendwo vor dem Unwetter Schutz gesucht hat. Und daß sie vielleicht gleich hier anruft oder zurückkehrt. Rein gefühlsmäßig sind wir jedoch der Meinung, daß hier etwas vorgegangen ist, daß – daß …«
»Ihre Gefühle nutzen mir gar nichts, Fräulein«, fuhr der Sheriff sie an. »Sie können nicht eine Anklage erheben, die völlig unbegründet ist.«
»Ich erhebe keine Anklage«, erwiderte Ilona kühl. »Wir suchen nur das Kind.«
»Sehr richtig«, warf ich ein. »Und dazu benötigen wir die Hilfe der Polizei. Das ist ja wohl nicht zuviel verlangt. Dafür sind Sie schließlich da.«
Der Sheriff wurde womöglich noch röter im Gesicht und fixierte mich zornig. Und ich dachte: Komisch, das war früher schon so, als ich noch ein kleiner Junge war. Jedermann bekam mit Schnyder immer gleich Krach. Dabei war er ein tüchtiger und ehrenhafter Beamter. Aber er hatte eine Art, einen anzuschnauzen und seine Autorität spüren zu lassen, die einfach zum Widerspruch reizte. Wir waren schließlich frei geborene Demokraten hierzulande.
Wer weiß, von welcher gemütlichen Sonntagsabendbeschäftigung man ihn fortgeholt hatte – und nun wollte man ihn noch in das Wetter hinausjagen, um ein verlorengegangenes Kind zu suchen, das vielleicht gar nicht verlorengegangen war … Der blasse Hilfspolizist, der mit großen Augen im Hintergrund stand, ganz im Schatten des mächtigen Postenchefs von Wilberg, schien auch nicht erbaut von dem Gedanken zu sein, im Regen herumzuirren.
Ilona ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Wir haben bereits nach dem Kind gesucht, Herr Ried und ich. Ergebnislos. Ich denke, daß man die Suche auch auf umliegende Häuser ausdehnen müßte, eben in dem Gedanken, daß die beiden irgendwo Unterschlupf gesucht haben.«
Der Sheriff reckte sich zu seiner vollen Größe. »Das müssen Sie mir schon überlassen, Fräulein, wie die Suche vor sich geht.«
Ilona hob mutlos die Schultern, seufzte und schwieg. Sie als Ortsfremde und daher von vornherein verdächtige Person konnte es mit dem Sheriff nicht aufnehmen, das schien ihr inzwischen klargeworden zu sein. Außerdem sah auch sie reichlich verwildert aus. Das dunkelblaue Jackenkleid, das sie im Dienst wieder getragen hatte, war naß und schmutzig und klebte eng an ihrer Figur. Die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen um den Kopf.
Nein, auch sie war für den Wachtmeister Schnyder keine vertrauenswürdige Person. Das ließ er uns gleich wissen. Er verlangte Madame de Latour zu sprechen.
Annabelle teilte ihm mit, daß Madame in Zürich weile und erst morgen abend zurückerwartet werde. Daraufhin akzeptierte er Annabelle de Latour als zweitbesten Verhandlungspartner. Ilona und ich schwiegen und hörten zu, wie Annabelle kurz schilderte, was vorgefallen war und was uns so in Unruhe versetzte.
Wenn man es so hörte, erschien es eigentlich recht harmlos. Die Pflegerin war mit dem Kind spazierengefahren, ein Gewitter war gekommen, es regnete noch, und die beiden waren noch nicht ins Hotel zurückgekehrt.
»Sie können sich in einem Haus befinden, wo kein Telefon ist«, entdeckte der Sheriff nach längerem Nachdenken.
»Aber sie wollte im Park spazierenfahren, da sind keine Häuser«, warf ich ein.
»Da ist, soviel ich weiß, ein kleiner Pavillon unten am See«, rief der Sheriff, ganz entzückt von seinem Scharfsinn. »Dort werden sie sein.«
»Da war ich
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