Der Mond im See
doch angetan, endlich mit einem vernünftigen Menschen zu reden. »Ein Waldhüter. Der hat kein Telefon.«
Wir kamen zu dem Ergebnis, daß die Suche fortgesetzt werden müsse. In den Häusern und Hütten der Umgebung, in den nahe gelegenen Wäldern. Der kleine Hilfspolizist bekam den Auftrag, zum Buschner zu radeln, der Wachtmeister würde mit seinem Wagen die Häuser abklappern. Er bestand Gott sei Dank nicht darauf, mit Renate zu sprechen.
Als die vier Augen des Gesetzes sich entfernt hatten, wandte sich der Kriminalrat an mich. Er machte ein ernstes Gesicht.
»Sie denken an Ihre Begegnung heute drüben in Marnbach?«
»Ja«, sagte ich. »Natürlich, es muß nichts weiter sein. Aber ich habe so ein dummes Gefühl.«
»Hm. Und ich denke an den Ermordeten. Man könnte einen Zusammenhang sehen. Und was ist wirklich mit der Mutter des Kindes? Wieso weiß sie nicht, daß der Junge verschwunden ist?«
Ich erzählte von Renates totenähnlichem Schlaf, der allzu offensichtlich eine künstliche Ursache hatte.
»Warum bist du nicht bei ihr geblieben?« fragte ich Annabelle. »Wird ihre Mutter es schaffen, wird sie die Nerven behalten? Tu mir den Gefallen und geh wieder rauf, erzähl ihr irgend etwas. Meinetwegen daß wir fernsehen, daß wir – was weiß ich, daß wir Domino spielen. Irgend etwas.«
Annabelle sah mich ängstlich an. »Ich – ich kann nicht. Was soll ich ihr denn sagen?«
»Sie muß es schließlich doch erfahren«, sagte der Kriminalrat.
»Man hätte sie lieber schlafen lassen sollen«, mischte sich eine Stimme ein, die bisher noch nicht zu vernehmen gewesen war. Yves. Er war näher gekommen. Ich staunte, wie sehr die Sache ihn mitzunehmen schien, er war kreidebleich, er zitterte geradezu. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so viel Gefühl und Anteilnahme. Nun gab auch Bill, der Amerikaner, seine Meinung zum besten. Er tippte natürlich auf Kidnapping, solche Dinge waren ihm von Hause aus vertraut.
»Da war einmal so eine Geschichte bei einem Freund meines Vaters«, erzählte er düster. »Man fand den Jungen schließlich. Aber tot. Und zuvor hatten die Eltern eine Million Dollar bezahlt. Die Entführer fand man nie.«
Er ging uns auf die Nerven. Keiner antwortete ihm.
Nur Yves. »Das ist ja Wahnsinn«, rief er laut, geradezu hysterisch, »Wahnsinn ist das. Wer denkt denn an so was? Man bringt doch ein Kind nicht gleich um. Wenn einer Geld will, na schön. Aber doch nicht gleich töten.«
»Ich würde aber auch nicht sagen, daß dies der richtige Weg zum Gelderwerb ist«, meinte der Kriminalrat trocken. »Ich bin da mit den Amerikanern einer Meinung. Ich kenne kein schlimmeres Verbrechen.«
»Und wo der Junge auch noch krank ist«, murmelte Annabelle.
»Also bitte«, sagte ich nervös, »wir wollen uns doch nicht verrückt machen. Vielleicht sind sie wirklich in dieser Waldhütte. Warten wir erst mal ab. Ich werde auch noch mal hinausgehen, ich halte das Warten nicht aus.«
»Ich komme mit«, rief Ilona.
»Sie bleiben hier«, sagte ich. »Sie sind ja pitschnaß. Ziehen Sie sich lieber um, Sie werden sich eine Lungenentzündung holen.«
»Und Sie?« fragte sie zurück.
»Ich bin abgehärtet, mir macht das nichts.«
Ich wandte mich zum Portal. Im gleichen Moment kam der Ruedi herein, seine Arzttasche in der Hand.
Er sah uns erstaunt an, sah unsere verstörten Gesichter, meinen wilden Aufzug und fragte: »Was ist los?«
Erst redeten alle zusammen, dann überließ man mir das Wort, und ich berichtete kurz, was geschehen war.
»Wo ist sie?« fragte er.
»Oben.«
»Und sie weiß noch nichts?«
»Bis jetzt nicht.«
»Was war das für ein Mittel?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall ein sehr starkes, sie schlief wie tot und war kaum wach zu kriegen.«
»Sie hat es nicht selbst genommen?«
»Nein. Sagt sie jedenfalls. Die Schwester sollte ihr eine Kopfwehtablette geben. Und hat ihr offensichtlich etwas anderes gegeben. Ob mit Absicht oder aus Versehen« – ich hob die Schultern –, »das wissen wir noch nicht.«
»Dann werde ich erst mal zu ihr hinaufgehen.«
Aber es kam nicht dazu. Wie auf ein Stichwort erschien auf der Treppe, die nach oben zu den Zimmern führte, Renate.
Im blauseidenen Morgenrock, in dem wir sie gefunden hatten, die Augen schwarz vor Entsetzen in dem bleichen Gesicht.
»Was ist los?« rief sie mit ganz hoher, ganz fremder Stimme. »Was ist denn? Wo – ist denn René?«
Einen Moment lang starrten wir sie sprachlos an. Es war schrecklich, ihr Gesicht zu
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