Der Mond ist nicht genug: Roman (German Edition)
dem du Angst haben musst. Für ihn bist du aber nur ein winziger Fleck am Horizont, der nicht einmal der Beachtung wert ist. Warum ist dein Komfort eine Million Ameisen wert, meiner aber keine Million Menschen?«
»Du zerstörst mein Universum!«
Lächelnd schüttelte Calvin den Kopf. »Du kapierst es wirklich nicht, oder? Ich bin nicht der Zerstörer. Du bist es.«
Während die Auserwählten mit ihren Klonen kämpften, brachen ihre morschen Gliedmaßen ab. Mit jedem keuchenden Atemzug atmeten sie in grauen Wolken ihre eigenen verdampfenden Organe aus. Der Kampfgeist verließ sie. Diana ließ ihre Klone per Willenskraft verschwinden, sie brauchte sie nicht mehr. Die Kultanhänger lagen sterbend am Boden, zusammen mit dem üppigen Gras unter ihnen. Selbst die Marmorstufen schienen zu Staub zu zerfallen.
»Ich sollte nicht hier sein. Deine Realität kann meine Anwesenheit nicht länger dulden. Wenn du mich jetzt nicht gehen lässt, wird sich dein Universum nicht nur verändern. Es wird sich mit der wütenden Raserei von Fenris selbst auflösen. Auf die eine oder andere Art werde ich diese Welt hinter mir lassen. Die einzige Frage ist: Was bleibt nach mir?«
Diana strengte ihre Sinne an. Flüchtig konnte sie bis zum Zerreißen ausgefranste Fäden der Schöpfung sehen. Geringere Schrecken wie Vorm und seinesgleichen stellten in dem geordneten Chaos, das alles um sie herum ausmachte, lediglich Störfaktoren dar. Sie mochten hier und da verrückte Situationen schaffen, einige Dinge aus dem Gleichgewicht bringen, aber sie waren erträgliche Ärgernisse.
Fenris war anders. Allein seine Existenz war auf lange Sicht unerträglich. Bisher hatte ihn das Universum davon abgehalten, alles zu zerstören, doch jetzt war das Ende des Weges gekommen.
Ihre Monster schafften es, Fenris ins Stocken zu bringen. Mit jedem Fitzelchen ihrer titanischen Kraft hielten sie den Mondgott im Zaum. Fenris’ Tentakel peitschten verzweifelt nach dem silbernen Himmelskörper, der sich knapp außerhalb seiner Reichweite befand. Wäre er nur ein wenig schlauer gewesen, er hätte diese Tentakel gegen seine Gegner einsetzen können, die es kaum fertigbrachten, ihn festzuhalten. Aber seine zwanghafte Verfolgung des Mondes vertrieb alle derartigen Strategien aus seinem fehlenden Geist.
Diana konnte nur Schmerz und Verwirrung in Fenris’ hundert Augen sehen. Er war nicht mehr als ein Tier, das der Falle zu entkommen suchte und den Heimweg finden wollte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre zerbrechliche Welt schien dem Untergang geweiht. Entweder sie würde zu etwas nicht Wiedererkennbarem transformiert oder komplett zerstört werden.
Sie setzte sich auf die bröckelnden Marmorstufen. Es war keine leichte Entscheidung.
Calvin und Sharon setzten sich neben sie. Sharons Körper hielt einigermaßen zusammen, auch wenn ihre Haut blass und ihre Gestalt dünn und gebrechlich war.
Falls sich Diana mit dem Universum hätte verändern und ihr eigener genetischer Code hätte umgeschrieben werden können, um wieder zu der neuen Welt zu passen, hätte sie darin einen gewissen Trost gefunden. Aber welche neue Realität auch immer wartete, sie würde nach wie vor sie selbst sein: ein Alien in einem verzerrten unbekannten Reich.
»Verdammt«, sagte sie. »Das ist doch Scheiße!«
»Frag mich mal«, stimmte ihr Calvin zu. »Ich weiß nicht einmal, was dort draußen auf mich wartet. Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Aber das ist alles eine Frage des Maßstabs, nicht wahr? Fenris mag auf dieser Existenzebene eine unzerstörbare Kraft sein, aber soweit ich weiß, bin ich nur ein kleiner Fisch in einem unendlich viel größeren Teich. Ich schwimme dann vielleicht frei von dieser Realität, aber nur, um von etwas noch Größerem verschlungen zu werden.«
»Alles ist bloß ein endloser Strang an Rätseln und Fragen, oder?«
»Vielleicht ist so einfach das Leben«, sagte er.
»Ach, Mist. Das ist doch unbefriedigend.«
Plötzlich brach das Herrenhaus in sich zusammen. Niemand sagte etwas dazu.
»Ich kann dir wirklich nicht raten, was hier zu tun ist, Diana«, sagte er. »Es ist deine Entscheidung.«
Sie schloss die Augen und befahl ihren Monstern durch Willenskraft, den Kampf aufzugeben. Sie ließen Fenris los. Ihre Mitbewohner materialisierten sich neben ihr. Deren Empfindungsvermögen wiederherzustellen fand sie leichter, als sie gedacht hatte. Die Wesen schrumpften auf ihre normalen Ausmaße zurück, jetzt wieder ohne die Masse ihrer
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