Der Mond ist nicht genug: Roman (German Edition)
nestelte mehrere Sekunden damit herum. Dann gab er der Tür ein paar Tritte und warf sich mit der Schulter dagegen.
»Sind Sie sicher, dass Sie aufgeschlossen haben?«, fragte sie.
»Oh, sie ist aufgeschlossen.« Er nahm sich einen Moment Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. »Wahrscheinlich hat sie der Schwarm blockiert.«
»Was ist der Schwarm?«
Er machte eine Geste in Richtung Tür, um ihr zu bedeuten, sie solle ihm helfen. Zusammen stemmten sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür.
»Morgen wird eine mutagene Strahlung alle Insekten des Planeten auf eine immense Größe anwachsen lassen. Innerhalb eines Jahres werden sie dann alles andere Leben auf der Erde fressen. Innerhalb von neunzig Jahren werden sie ein interplanetares Volk aufbauen, das die Hälfte der Milchstraße bevölkern wird. Ich nenne es den Schwarm. Auch wenn es sich selbst wahrscheinlich irgendwie anders nennt. Oder vielleicht halten sie sich auch gar nicht mit Worten auf. Vielleicht verfügen sie nicht einmal über Sprache. Habe nie versucht, ein Gespräch mit den verdammten Biestern zu führen.«
Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter weit. Eine klebrige Substanz sickerte durch den Spalt.
»Achte darauf, dass du den Schleim nicht in die Augen bekommst, es sei denn, du willst sehen, wie du stirbst«, warnte er.
Mit ein bisschen mehr Arbeit schafften sie es, die Tür halb zu öffnen, was genügte, damit West sich durchquetschen konnte. Er stieg ein paar Stufen hinunter, blieb stehen und sagte, ohne sich umzusehen: »Kommst du, Nummer Fünf?«
Sie streckte den Kopf in das düstere Treppenhaus. »Ist es gefährlich?«
»Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist der Tod.«
»Oh, ist das alles?«
Von den meisten Leuten wäre das ironisch gemeint gewesen, aber Diana verstand ebenso wie West, dass es in diesem Universum wesentlich Schlimmeres gab als den Tod.
Diana folgte ihm in die Dunkelheit. Er kramte einen Tischlerhammer aus seiner Werkzeugkiste und gab ihn ihr. »Den kannst du vielleicht gebrauchen. Deine Kräfte richten hier unten nichts aus.«
»Wenn Sie wissen, dass es passieren wird, können Sie es dann nicht aufhalten, bevor es passiert?«
»So läuft das nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil die Strahlung immer morgen einsetzt. Wenn wir das Problem lösen, wird es einfach übermorgen passieren. Und wenn wir das aufhalten …«
»Hab’s kapiert.«
»Soweit ich es verstanden habe, funktioniert der Schwarm auf einer umgekehrten Zeitachse. Nicht ganz hundertachtzig Grad von der, die das restliche Leben auf der Erde benutzt. Vielleicht hundertdreiundsiebzig Grad. Vielleicht hundertvierundsiebzig.«
Sie wagten sich weiter in die Tiefen vor. Am Fuß der Treppe ging ein schwaches Glühen von den Wänden aus, die voll von dem klebrigen Zeug waren.
»Die Zukunft des Schwarms drückt gegen unsere Vergangenheit. Wenn der Schwarm es schafft, weiter vorwärts zu drängen – oder rückwärts, falls das einfacher zu verstehen ist –, wird er irgendwann die ganze Geschichte umschreiben und dabei die komplette menschliche Zivilisation auslöschen.«
»Das ist Mist.«
»Eigentlich nicht. Ist schon drei Mal passiert. Vier Mal, wenn man den Fall der Neandertaler mitzählt. Und das sollte man eigentlich, denn sie waren eine feine Primatenkultur, der Menschheit in mancher Hinsicht weit überlegen. Die Neandertaler haben den Telegrafen eine ganze Woche vor dem Homo sapiens erfunden. Und sie hatten höllisch gute Hühnchensandwiches.«
»Wenn es also die Zukunft ist und wir sie nicht aufhalten können, was tun wir dann hier unten?«
»Dass es die Zukunft ist, heißt noch nicht, dass es morgen passiert. Der Schwarm drückt gegen unsere Vergangenheit. Und unsere Vergangenheit drückt gegen die Zukunft, die die Vergangenheit des Schwarms ist. Es ist durchaus möglich, dass die Zukunft des Schwarms immer morgen und immer da draußen stattfindet.« Vage wedelte er mit seiner Rohrzange herum, als deute er auf einen Punkt an einem fernen Horizont. »Irgendwo anders, aber nie ganz hier.«
»Ah«, sagte sie. »Klingt logisch.«
»Ja?«
»Es ist wie die Zukunft, aber nicht unbedingt die Zukunft, die jemals kommt.«
»Nein, es ist ganz anders, aber egal. Wenn es als Erklärung plausibel klingt, belassen wir es dabei. Ich denke mir diesen Mist meistens spontan aus, also ist es keineswegs so, als würde ich mehr davon verstehen. Theorien und Erklärungen sind nur Werkzeuge, die man benutzt und wieder weglegt, je nachdem, wie man sie in
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