Der Mondmann
da?«
»Fast.«
Carlotta hörte das leise Lachen. »Ich habe nämlich Probleme mit meinen Augen, weißt du?«
»Klar, es ist auch dunkel.«
»Das meine ich noch nicht mal so. Es liegt auch bei mir am Fieber«, erklärte sie. »Aber im Moment geht es. Ich habe den letzten Schub überstanden.«
Um eine vertrauenserweckende Maßnahme einzuleiten, erkundigte sich Carlotta nach dem Namen der Gefangenen.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Melody.«
»Toller Name.«
»Nutzt mir auch nichts.«
»Ich bin übrigens Carlotta.«
»He, so heißt auch nicht jede.«
»Stimmt.«
Das Vogelmädchen hatte zwar gesprochen, aber es hatte sich immer nur sehr vorsichtig bewegt, denn auf dem Grund des Turmes verteilten sich die Steine als Trümmer. Es war auch innen im Laufe der Zeit einiges zusammengebrochen. So hatte Carlotta über die verschieden hohen Trümmerstücke steigen müssen. Noch immer bedauerte sie es, kein Licht zu haben. Zum Glück besaß sie gute Augen. Viele Menschen hätten sie darum beneidet. Zwar war es ihr nicht möglich, in der Dunkelheit zu sehen, aber vor sich nahm sie einen sehr schwachen Umriss wahr, der einem Menschen ähnelte. Sie zögerte einen Moment, konzentrierte sich und war der Meinung, dass sich der Mensch hochgedrückt hatte und so in eine sitzende Haltung gelangt war.
»Ich sehe dich, Carlotta.«
»Das ist gut. Warte noch.«
Dem Vogelmädchen reichte ein Schritt, um ihr Ziel zu erreichen. Der sie umgebende Geruch änderte sich, als sie vor Melody Marwood ihre Schritte stoppte. Sie nahm jetzt den der Frau war. Carlotta wollte nicht von einem Angstgeruch sprechen, aber Melody hatte schon unter Stress gestanden und geschwitzt, das war auch zu riechen.
Carlotta ging in die Hocke. Sie streckte ihre Hände aus und ließ die Handflächen über die Kleidung gleiten, wobei sie nach einem leichten Rucken stoppte.
Das hatte auch Melody bemerkt. »Was ist denn los?«
Carlotta musste leise lachen. »Ich weiß es nicht so genau. Deine Kleidung fühlt sich seltsam an.«
»Kein Wunder. Sie passt auch nicht hierher. Ich trage einen Bademantel.«
Das irritierte Carlotta, doch sie fragte nicht mehr weiter. Melody hatte sicherlich ihre Gründe gehabt.
»Jedenfalls werden wir von hier verschwinden. Wie sieht es mit dir aus? Wie fühlst du dich?«
»Bescheiden. Du hast dir keine gute Unterstützung ausgesucht. Ich bin zu schwach.«
»Unsinn, das regeln wir.«
»Wieso? Willst du mich tragen?«
»Klar.«
Nach dieser ehrlichen und knappen Antwort hatte es Melody zunächst die Sprache verschlagen. Ihr war zudem noch etwas aufgefallen. Bevor sie danach fragte, hoffte sie, sich geirrt zu haben.
»Ich will dich nicht beleidigen, Carlotta, und nimm es mir auch nicht übel, aber deine Stimme klingt anders. Ich meine das nicht negativ. Sie hört sich so jung an.«
»Das ist wahr.«
»Bist du jung?«
»Jünger als du.«
Melody ließ nicht locker. »Ein Kind?«, flüsterte sie. »Eine Jugendliche oder...«
»Eine Jugendliche.«
»Oh Gott, nein!«
Carlotta wusste, was Melody dachte. Sie rechnete nicht damit, dass ein so junger Mensch sie aus dieser Lage befreien konnte. Da brauchte man schon die Kraft einer erwachsenen Person, aber sie wollte nicht mehr dagegen sprechen. Letztendlich konnte sie überhaupt froh sein, dass sie jemand in dieser Einöde gefunden hatte.
»Wir sollten uns beeilen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Er kommt sicherlich zurück, um mich zu holen.«
»Wer ist es denn?«
»Mein Entführer, der Mondmann.«
»Oh... du hast ihn gesehen?«
»Und wie!«
»Kann er fliegen?«
»Weiß ich nicht. Mit mir ist er wohl nicht geflogen. Er hat mich nur aus unserem Haus geholt. Ich bin ja krank. Ich habe nichts mehr mitbekommen. Erst als ich hier lag, da konnte ich wieder durchatmen. Verstehst du das?«
»Aber du weißt bestimmt, wie er aussieht – oder?«
»Klar weiß ich das. Er hat gelbe Augen. In ihnen ist Licht. Sie leuchten. Ich hatte nie gedacht, dass es ihn gibt, aber jetzt muss ich anders darüber denken. Und ich weiß auch nicht, was er mit mir vorhat. Das ist alles so schrecklich.«
»Er wird nichts mit dir Vorhaben«, erklärte Carlotta, »weil wir nämlich verschwinden werden.«
»Aber...«
»Komm jetzt!« Carlotta spürte, dass es Zeit wurde. Sie wollte es nicht auf die Spitze treiben. Reden und erklären konnte man später noch, jetzt mussten sie hier raus.
Melody machte mit. Ihre Hände umklammerten die Handgelenke des Vogelmädchens, und Carlotta spürte die Wärme der
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