Der Mondscheingarten
zur Landung angesetzt.
Schade, dachte Lilly. Diesen Mann hätte ich bei einem Langstreckenflug kennenlernen müssen. Sie war sicher, dass sie sich noch allerhand erzählen könnten.
Doch dafür reichte die Zeit nicht aus, und als sie sich beim Aussteigen schließlich verabschiedeten und sich dann beim Warten auf das Gepäck aus den Augen verloren, war sie beinahe ein wenig traurig.
4
Lilly hielt es für ein gutes Omen, dass London sie nicht klischeehaft mit düsteren Wolken und Regen empfing. Der Himmel über dem Flughafen war so blau wie auf einer Postkarte, und nur vereinzelt zeigte sich ein Federwölkchen. Es schien fast, als sei ihr das gute Wetter aus Berlin gefolgt.
Ellen hatte ihr zwar angeboten, sie vom Flughafen abzuholen, doch das hatte Lilly abgelehnt. Sie wusste nur zu gut, wie eingespannt ihre Freundin in ihre Arbeit war. Nachdem sie kurz überlegt hatte, ob sich ein Leihwagen lohnen würde, entschied sie sich für ein Taxi. Der Fahrer war etwa um die fünfzig und Schotte, wie man unschwer an seinem Akzent hörte. Mit seiner etwas ausgebeulten Tweedjacke, den Cordhosen und der Schirmmütze auf dem Kopf wirkte er wie der typische Pubbesucher aus englischen Fernsehserien.
»Sind Sie Musikerin?«, fragte er, kurz nachdem sie Heathrow hinter sich gelassen hatten, und deutete mit dem Kinn auf den Geigenkasten, der auf ihrem Schoß lag.
»Nein, ich handle mit Antiquitäten.« Lilly fragte sich im Stillen, wie oft sie diesen Umstand noch erklären musste.
»Dann spielen Sie hobbymäßig?«, bohrte der Taxifahrer weiter. »Mein Sohn schickt seine Kleine auf eine Musikschule in Belgravia, er bildet sich ein, dass sie eines Tages eine Stargeigerin wird.« Der Mann schnaufte verächtlich.
»Spielt Ihre Enkelin nicht gut?«
»Doch, klar tut sie das – für eine Siebenjährige. Ich bin aber der Meinung, dass die Kleine rausgehen und was mit anderen Kindern ihres Alters unternehmen sollte.«
Lilly schwieg nachdenklich. Natürlich hatte der Mann recht, wurde das Mädchen zum Geigespielen gezwungen, würde sie wahrscheinlich darunter leiden und das Instrument abstoßen, sobald ihr die Pubertät genügend Rebellion einimpfte. Doch vielleicht mochte sie es ja auch. Es gab sehr viele Künstler, die schon mit so jungen Jahren wussten, was sie machen wollten. Und denen es egal war, ob sie für normal gehalten wurden oder nicht. Nicht alle Kinder liebten es, durch den Matsch zu turnen und auf Bäume zu klettern.
»Vielleicht wird sie ja wirklich eine Stargeigerin«, entgegnete sie schließlich. »Und wenn sie das nicht werden will, wird sie früh genug aufhören, glauben Sie mir.«
Als das Gespräch mit dem Taxifahrer erstarb, richteten sich Lillys Gedanken wieder auf Mr Thornton.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass er irgendwas an sich hatte, das sie an Peter erinnerte. Äußerlich waren beide vollkommen unterschiedlich – Peter war blond und blauäugig gewesen, Thornton war dunkel in Haar- und Augenfarbe –, aber in der Wesensart des Engländers entdeckte sie im Nachhinein ein paar Gemeinsamkeiten. In der Art, wie er sprach oder sie lächelnd ansah …
»Meine Güte ist das ein Kasten!« Der Fahrer stieß einen bewundernden Pfiff aus, der Lilly aus ihren Gedanken riss. Als sie aufblickte, erkannte sie vor sich das Haus ihrer Freundin.
»Wollen Sie wirklich dorthin?«
»Ja, da wohnt meine Freundin«, erklärte Lilly und spürte, dass plötzlich ein warmes Gefühl ihren Körper flutete. Auf einmal hatte sie wieder den Duft eines der Weihnachtsfeste in der Nase, die sie mit Ellen und ihrer Familie hier verbracht hatte. Das gesamte Haus hatte nach gerösteten Mandeln, Zuckerzeug, Rosinen und Plumpudding gerochen.
Vor dem hohen Eisentor, das wohl noch aus elisabethanischer Zeit stammte, blieb das Taxi stehen. Lilly bezahlte den Fahrer, der ihr daraufhin noch den Koffer und die Tasche aus dem Kofferraum hievte und dann davonbrauste. Das Funkgerät, das sich bereits unterwegs mit einem ungeduldigen Rauschen gemeldet hatte, untersagte ihm, den Anblick des Anwesens auch nur einen Moment länger als nötig zu genießen.
Doch Lilly nahm er sofort gefangen. Wie verzaubert spähte sie durch die Gitterstäbe. Und gleichzeitig versetzte ihr der Neid einen mehr als kleinen Stich. Schon immer hatte ihre Freundin das Glück angezogen. Nicht nur, dass sie ihren Traumberuf ausübte, sie hatte einen wunderbaren Mann, zwei reizende Töchter und dieses Haus. Wobei die Bezeichnung Haus eindeutig untertrieben war, denn das hier war
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