Der Mondscheingarten
Bevor die Fremde aufgetaucht war, hatte sie noch einmal eine besonders schwierige Passage des Konzerts üben wollen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen.
Mit zitternden Händen griff die junge Frau nach dem Instrument und drehte es herum. Während ihre Finger über die dort eingebrannte Rose glitten, tauchte ein Gesicht vor Helens geistigem Auge auf. Das Gesicht der Frau, die ihr diese Geige geschenkt hatte. War es wirklich möglich …?
Als die Tür hinter Helen aufgestoßen wurde, gab die Violine ein seltsam blechernes Geräusch von sich. Die gerissene Saite peitschte über ihre Haut und hinterließ einen blutigen Striemen. Erschüttert beobachtete Helen, wie Blutstropfen aus dem Schnitt hervorquollen. Die Erinnerung an ihre grausame Musiklehrerin ließ Zorn in ihr hochwallen. Schon wollte sie aufspringen und die Geige wütend in die Ecke werfen, da erschien Rosies gütiges Gesicht hinter ihr im Spiegel. »Wir haben volles Haus!« Das Lächeln verging ihr augenblicklich. »Du lieber Himmel!« Erschrocken schlug die Garderobiere die Hand vor den Mund, als sie sah, dass Blut zwischen den Fingern der Geigerin hervorquoll. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Es ist nichts«, entgegnete Helen beherrscht. Den Schmerz an ihrem Handgelenk spürte sie kaum, denn der Zorn in ihrem Innern war stärker und überdeckte alle körperlichen Empfindungen. »Eine der Saiten ist gerissen, ich war unachtsam.«
Eigentlich hätte sie die Violine sogleich in Ordnung bringen lassen sollen. Doch sie schaffte es nicht, sich von ihrem Hocker zu erheben. Sie zweifelte sogar daran, sich jemals wieder erheben zu können.
»Soll ich Ihnen etwas holen, Miss Carter?«, fragte die Garderobiere ratlos, doch Helen schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist gut, Rosie, ich brauche nichts.« Die Worte kamen ihr heftiger über die Lippen, als sie eigentlich sollten.
»Aber Ihr Auftritt ist doch gleich, Madam. Die Violine …«
Helen nickte abwesend. Ja, der Auftritt. So wie der Besuch etwas in ihrem Innern verändert hatte, so hatte er ihr auch die Zuversicht genommen, dieses Konzert spielen zu können. Vielleicht bedeutete es das Ende ihrer Karriere, aber in diesem Augenblick wollte Helen nur weg von hier und diese verfluchte Geige loswerden, die sie nun ebenso wie ihre Musiklehrerin verletzt hatte. Das Instrument, das ihr von einer Toten geschenkt worden war.
Mit der Violine in der Hand erhob Helen sich und schritt erhobenen Hauptes zur Tür, öffnete sie und verließ die Garderobe. Den Ruf der Garderobiere ignorierte sie ebenso wie die kaputte Saite, die gegen ihre Waden pendelte. Aus der Konzerthalle hörte sie die Geräusche der Musiker, die gerade ihre Instrumente stimmten. Vergebliche Mühe, denn das Konzert würde nicht stattfinden. Und auch das erwartungsvolle Raunen der Zuschauer war verschenkt.
Zielsicher fand sie den Weg zum Hinterausgang. Die verwunderten Blicke der Bühnenarbeiter ignorierte sie. Ich gehöre nicht hierher. Ich will das alles nicht. Ich will nur meine Ruhe, ich will … Klarheit.
Die Geige in ihrer Hand gab einen Misston von sich, als Helen die Tür aufstieß, fast so, als wollte sie sie warnen. Feuchtkalte Luft strömte Helen entgegen. Um diese Jahreszeit war London nachts besonders unangenehm, doch das war ihr egal. Der Schnitt an ihrer Hand pulsierte, die Violine wurde auf einmal schwer. Die Augen der toten Frau jagten Helen, trieben sie dazu an, einfach auf die Straße vor der London Hall zu laufen.
Erst als sie ein markerschütterndes Hupen neben sich hörte, erstarrte Helen und riss angesichts der auf sie zurasenden grellen Lichter die Arme hoch.
1
Berlin, Januar 2011
Als die Zeiger der großen Standuhr auf kurz vor fünf rückten, war Lilly Kaiser sicher, dass niemand mehr in ihren Laden kommen würde. Versteckt hinter hochgeschlagenen Mantelkrägen und unter tief ins Gesicht gezogenen Mützen, huschten die Leute an dem Schaufenster vorbei, ohne die Auslage eines Blickes zu würdigen.
In den ersten Wochen des neuen Jahres interessierte sich niemand mehr für Antiquitäten. Die Geldbörsen und Konten waren leer, die Menschen hatten kein Bedürfnis, irgendwelche besonderen Stücke für die liebe Verwandtschaft zu suchen. Das würde sich im Frühjahr und Sommer, wenn die ersten Touristen aus aller Welt wieder anrückten, ändern. Solange musste sie die Flaute irgendwie überbrücken.
Seufzend ließ sich Lilly auf einem kleinen Louis- XV .-Hocker nieder und blickte durch das Schaufenster zum Himmel hinauf,
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