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Der Mondscheingarten

Der Mondscheingarten

Titel: Der Mondscheingarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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sie zu den beiden kleinen Türmchen an der Vorderfront aufschaute. Ob Königin Elisabeth I. bei ihren Jagden hier Rast gemacht hatte? Die längst vergangene Zeit war noch immer spürbar.
    Viel Zeit zum Nachdenken über früher hatte Lilly jedoch nicht, denn kaum war sie zwei Stufen hinauf, flog auch schon die Haustür auf. Ellens Töchter stürmten ihr entgegen, als sei sie der Weihnachtsmann, und umarmten sie so ungestüm, dass sie aufpassen musste, nicht von der Treppe zu fallen.
    »Tante Lilly!«, riefen sie wie aus einem Munde, und spätestens, als sie sie umarmten und Lilly vom Gewicht der beiden ein Stück nach hinten geworfen wurde, wusste sie, dass die Mädchen wieder größer geworden waren. Allerdings verkniff sie sich diese Phrase, die sie auch schon an ihren Tanten gehasst hatte.
    »Schön, euch zu sehen!«, sagte sie auf Englisch, obwohl sie wusste, dass die beiden dank Ellen auch sehr gut Deutsch sprachen.
    »Schön, dich zu sehen, Tante!«, erwiderte Jessi höflich auf Deutsch, worüber Lilly lächeln musste. »Mum hat gesagt, dass wir dich zu deinem Zimmer bringen sollen, sobald du da bist.«
    »Ja, du sollst dich erst mal ein bisschen ausruhen«, setzte Norma hinzu.
    »Aber ich habe doch die ganze Zeit über gesessen und bin nicht durch den Ärmelkanal geschwommen.«
    Die beiden Mädchen kicherten über den Witz, dann wandten sie sich um und liefen voran.
    Während sie Jessi und Norma durchs Haus folgte, fielen Lilly hier und da ein paar neue Möbelstücke auf, die bei ihrem letzten Besuch noch nicht da gewesen waren. Der Zuckerstangengeruch des längst vergangenen Weihnachtsfestes war allerdings fort, stattdessen schwebte eine nach Kleber riechende Wolke in dem Gang. Vermutlich hatte eines der Mädchen gerade über den Hausaufgaben gesessen.
    Wie die beiden Mädchen schließlich durch den Gang zu ihrem Zimmer liefen, erinnerten sie Lilly an Ellen und sich selbst. Auch sie waren mit ausholenden Schritten durch die Gänge ihres Elternhauses gelaufen – nur dass sie keine Geschwister waren. Ellen war mit ihren langen Beinen immer ein Stück voraus gewesen, was Lilly nur dadurch wettmachen konnte, dass sie ihr hinterherrannte.
    »Mum hat gesagt, dass wir dich nicht ausfragen sollen«, erklärte Jessi, die Älteste, die mit ihren elf Jahren schon fast genauso groß war wie Lilly selbst.
    »Das ist aber eine komische Regel«, entgegnete Lilly. »Ich bin doch hier, um ausgefragt zu werden. Aber ich fürchte, ich kann euch nicht helfen, wenn ihr wissen wollt, welche Band in Berlin gerade besonders angesagt ist.«
    »Mummy hat erzählt, dass du eine Geige hast«, meldete sich Norma zu Wort, als hätten Bands und Klamotten noch keine Bedeutung für sie. »Darf ich die mal sehen?«
    »Klar, ich zeige sie dir nachher. Lass mich erst mal aus­packen.«
    Vor einer geschnitzten Tür, die als eine der wenigen noch im Originalzustand erhalten geblieben war, machten die Mädchen halt. Lillys Herz pochte vor Vorfreude. Das war das Zimmer, in dem sie immer übernachtete, wenn sie hier war. So stark, wie es sie an das Haus ihrer Großmutter erinnerte, gab es ihr jetzt irgendwie das Gefühl, an einen Ort der Kindheit zurückzukehren. Das alte hohe Bett, die groben Balken, die alten Möbel …
    Als die beiden Mädchen die Tür aufzogen, stellte Lilly fest, dass sich kaum etwas verändert hatte. Das Bett war immer noch der wuchtige Klotz aus ihrer Erinnerung, auch der antike Kleiderschrank, der aus dem Schlafzimmer von Deans verstorbenen Eltern stammte, war immer noch da. Über allem wachte ein alter Hirschkopf, »Heinrich«, wie ihn Lilly spöttisch nach einem Kinderbuch nannte, das sie ein paar Jahre vor dem Mauerfall in Ostberlin gekauft hatte. Als sie diesem ausgestopften Ungetüm zum ersten Mal gegenübergestanden war, hatte sie sich noch davor gegruselt. Mittlerweile jagte ihr der Anblick kaum noch Schrecken ein. Er war eben ein Teil dieses Zimmers wie die Sockeltäfelung oder die rotseidene Tapete, die von einem Spezialisten aus Oxford restauriert worden war.
    Neu war allerdings die große längliche Schachtel, die auf dem Bett lag.
    »Das ist ein Geschenk von Mummy!«, erklärte Jessi so stolz, als hätte sie es persönlich ausgesucht. »Sie hat es gestern mitgebracht und uns verboten, reinzuschauen.«
    »Dürfen wir jetzt reinschauen?«, fragte Norma sofort.
    »Das dürft ihr. Aber lasst mich erst mal meine Sachen abstellen.« Lilly stellte ihren Koffer vor dem Schrank ab, neugierig beobachtet von den Mädchen,

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