Der Mondscheingarten
Abend anzurufen. Sicher würde sie diese Violine nicht bezahlen können, aber immerhin wollte sie ihrer Freundin von der Zeichnung erzählen – und vielleicht gestattete ihr der Mann, ein Foto zu machen …
»Ich fürchte, ich habe nicht genug Geld, um Ihnen dieses Stück abzukaufen«, sagte sie, während sie die Geige vorsichtig in den Kasten zurücklegte. »Es ist sicher ein Vermögen wert.«
»Das ist sie in der Tat«, antwortete der alte Mann nachdenklich. »Ich höre Bedauern in Ihrer Stimme. Sie mögen diese Violine, nicht wahr?«
»Ja, sie … sie ist so besonders.«
»Nun, was würden Sie dazu sagen, wenn es mir nicht darum geht, sie zu verkaufen?«
Lilly zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Weshalb sind Sie dann hier?«
Der Mann lächelte kurz in sich hinein, dann sagte er: »Sie gehört Ihnen.«
»Wie bitte?« Verwirrt blickte Lilly den Mann an. Das konnte er doch nicht wirklich gesagt haben … »Sie wollen mir diese Violine schenken?«, sprach sie den Gedanken, der ihr absurd erschien, aus.
»Nein, das nicht, denn man kann nur verschenken, was man besitzt. Diese Violine gehört Ihnen. Jedenfalls, wenn man dem Einwohnermeldeamt glauben darf. Es sei denn, Sie sind nicht Lilly Kaiser.«
»Natürlich bin ich die, aber …«
»Dann ist das Ihre Geige. Und es liegt noch etwas anderes dabei.«
Sein herzliches Lächeln konnte Lillys Verwirrung nicht zerstreuen. Ihr Verstand sagte ihr, dass das Ganze vielleicht ein Trick war, oder eine Verwechslung. Welchen Grund sollte der Mann haben, ihr eine Geige zu schenken? Sie hatte ihn in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.
»Schauen Sie mal unter das Futter«, beharrte er. »Vielleicht sagt Ihnen das, was sich da befindet, etwas.«
Zunächst zögerlich, dann mit zitternden Händen zog Lilly einen mit Stockflecken übersäten Zettel hervor und faltete ihn auseinander.
»Ein Notenblatt?«, murmelte Lilly überrascht.
Betitelt war das dort niedergeschriebene Stück mit »Moonshine Garden« – Mondscheingarten. Die Noten wirkten fahrig, als seien sie in größter Eile niedergeschrieben worden. Der Name des Komponisten fehlte.
»Woher haben Sie die Geige?«, fragte Lilly verwirrt. »Und woher wussten Sie …«
Das Läuten der Türklingel unterbrach sie. Der Mann eilte mit langen Schritten davon, wie ein Dieb, der sich vor der Polizei in Sicherheit bringen wollte.
Zunächst stand Lilly wie erstarrt da, dann rannte sie zur Tür, riss sie auf und stürmte unter wütendem Gebimmel nach draußen. Doch da war der alte Mann, dessen Namen sie nicht kannte, bereits verschwunden. Stattdessen biss ihr der Frost kräftig in Wangen und Hände, durchdrang mühelos ihre Kleider und trieb sie schließlich wieder zurück in den Laden.
Dort lag die Geige noch immer in ihrem Kasten, und erst jetzt merkte Lilly, dass sie das Notenblatt immer noch in der Hand hielt.
Was sollte sie jetzt tun? Wieder blickte sie nach draußen, doch der alte Mann blieb verschwunden.
Ein Schauer überlief sie, als sie ihren Blick auf die seltsam gefärbte Geige richtete, die fest gespannten silbrigen Saiten auf dem schlanken Hals musterte und dann an der filigran geschwungenen Schnecke haltmachte. Was für ein wunderbares Instrument! Sie konnte noch immer nicht glauben, dass es wirklich ihres sein sollte. Und was war mit dem Notenblatt? Warum hatte er explizit darauf hingewiesen?
Ein Knall ließ sie zusammenzucken. Erschrocken wirbelte sie herum und sah gerade noch die Kinderhorde, die lärmend am Laden vorbeirannte. Ein Schneeball klebte auf dem vordersten A im Schriftzug »Antiquitätenhandel Kaiser«.
Aufatmend blickte Lilly wieder zur Geige. Ich sollte sie Ellen zeigen. Sie weiß vielleicht, wer sie gebaut hat – und mit etwas Glück findet sie auch heraus, wer dieses Stück komponiert hat.
Da sie sicher war, dass kein Kunde und ganz sicher auch kein weiterer alter Mann mit irgendeinem verwunschenen Musikinstrument auftauchen würden, ging sie zur Tür, drehte das Schild auf »Geschlossen« und holte ihren Mantel.
2
Mit dem Geigenkasten unter dem Arm stieg Lilly die Stufen zu ihrer Wohnung in der Berliner Straße hinauf. Das Haus war recht alt und befand sich direkt neben einem ehemaligen Theater, das schon seit einigen Jahren leer stand und auf einen neuen Besitzer oder Mieter wartete.
Die Stufen knarrten unter Lillys Füßen, das typische Odeur des Hauses umfing sie. Im Treppenhaus nisteten zahlreiche Gerüche, in jeder Etage ein anderer. Unten war es Katze, in der Mitte
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