Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
kann. Junge Menschen haben so wache Köpfe, sie sehen scharf und hören scharf, bekommen alles mit, alle Details. Wie die junge Frau im Blumenladen, schlank und zierlich in ihrem roten Pullover, er kann sie nicht vergessen, und sie kann vielleicht auch ihn nicht vergessen. Sein Schweigen, seinen Unwillen, seinen verschlissenen grünen Parka. Er verdrängt diese Gedanken, schaut in den Himmel. Es ist ein schöner Tag. Endlich hat er seinen Kurs gefunden, er benimmt sich jetzt anständig, niemand soll ihm etwas vorwerfen können, keinen Mord, keine Sozialschmarotzerei. Er fährt zur Kirche von Hamsund. Der Friedhof liegt still und verlassen da, hübsch vom Schnee geschmückt, mit einer kühlen, ganz eigenen Schönheit. Er hält an, bleibt eine Weile stehen, sieht sich um, saugt die frische Luft in sich ein. Die Sonne scheint weiß und läßt alles funkeln wie winzigkleine Diamanten. Langsam wandert er zwischen den Gräbern umher. Vielleicht hat sie nur ein hölzernes Kreuz, denkt er, denn es braucht seine Zeit, einen Stein auszusuchen, es braucht seine Zeit, ihn zu bearbeiten, er muß zurechtgehauen, poliert und graviert werden. Er schaut sich immer wieder über die Schulter um, aber er kann niemanden sehen, es ist noch zu früh am Tag. Lange geht er suchend umher. Ab und zu bleibt er stehen und bewundert die weiße Kirche, sie stammt aus dem Mittelalter und wurde erst kürzlich restauriert, vielleicht ist sie die schönste im ganzen Bezirk. Er sucht überaus systematisch, prägt sich alle Namen ein, denkt an die vielen Schicksale. Ab und zu findet er einen jungen Menschen, bleibt ein wenig stehen und staunt, wird von Wehmut erfaßt beim Gedanken an dieses kurze Leben. Vier Jahre, dreizehn Jahre. Und dann muß er an Julie denken, wie wäre es, sie zu verlieren, aber soweit reicht seine Phantasie nicht. Julie ist so gesund und lebendig, ihr kann nichts passieren. Er ist schon eine halbe Stunde unterwegs, als er plötzlich vor ihrem Grab steht. Harriet Asta Krohn, hier liegt sie, unmittelbar vor seinen Füßen. Ich hätte eine Blume mitbringen können, geht ihm auf, das wäre anständig gewesen, noch ein Punkt zu seinen Gunsten. Aber soweit habe ich nicht gedacht, ich habe nur an dieses neue Bild gedacht, das ich jetzt mit mir weitertragen kann. Eine alte Frau in einem schönen Sarg, die Hände über der Brust gefaltet. Nicht das schreckliche Bild aus der Küche, das mich seit Wochen quält, der verzerrte, zerstörte Leib, das einfache grüne Kleid. Er versucht, seine Gefühle auszuloten. Es gelingt ihm nicht ganz, sie zusammenzubringen, die Bilder, die durch seinen Kopf wirbeln, der Revolvergriff, der ihren Schädel traf, daß sie umfiel und dann zu diesem hölzernen Kreuz wurde. Kann das wirklich stimmen? Lange steht er so da, steht einfach so vor ihrem Grab, denkt über alles nach. Versucht, eine Verteidigungsrede zu formulieren. Du hast mir im Weg gestanden, du hast mir mit deinem Geheul solche Angst gemacht, du konntest ja auch nicht viel vertragen, du warst ein altes Wrack. Zerbrechlich wie ein Strohhalm. Danach stand ich unter Schock. Ich kann dir sagen, das hat mich für den Rest meines Lebens gezeichnet, das werde ich nicht vergessen können. Aber es ist nun einmal so, daß ich eine Tochter habe, und für sie muß ich dasein, für den Rest meines Lebens. Deshalb kann ich mich nicht bei dieser Tragödie aufhalten. Die darf mich nicht zerstören, es ist alles ohnehin schon schlimm genug. Mein Verhältnis zu Julie ist noch immer zerbrechlich, vor uns liegt noch ein langer Weg. Wenn es an mir läge, Harriet, dann würde ich dich von nun an also verdrängen. Ich sehe, daß hier alles in Ordnung ist, alles ist sauber und ordentlich, und bald wirst du sicher einen schönen Stein bekommen. Harriet Asta Krohn. Guter Name, klingt elegant. Ich habe soeben dein Alter ausgerechnet, du bist fast sechsundsiebzig. Ein stattliches Alter, so alt werde ich sicher nicht. Das mag ein armseliger Trost sein, aber du hast immerhin das Durchschnittsalter erreicht.
Er senkt den Kopf und ist zufrieden, steht da mit gefalteten Händen und genießt das Gefühl von Ruhe, das ihn nun endlich überkommt. Er kann dieses Unglück jetzt abschließen und weiterkommen. Endlich kommt er weiter. Dann bemerkt er hinter sich plötzlich ein Geräusch, eine Art Knistern.
»Entsetzliche Geschichte, nicht wahr?«
Er fährt zusammen beim Klang dieser Stimme, dreht sich um und starrt ins Gesicht einer Frau. Sein Mund steht vor Überraschung offen. Sie
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