Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Unbeschwertheit. Er zerknüllt den Nummernzettel und denkt an Harriet Krohn. Sofort erscheint ihm ein Bild. Noch immer liegt sie auf dem Küchenboden, mit dem Gesicht in einer Blutlache. Obwohl seine Vernunft ihm sagt, daß sie natürlich weggebracht worden ist. Jemand hat für ein Grab gesorgt, denkt er. Die Erben. In seinem Kopf nimmt eine Idee Form an. Endlich leuchtet über dem Schalter die 58 auf. Er geht hinüber und beugt sich vor. Die Frau ist in seinem Alter, kurzgeschoren und mager und mit einem kleinen spitzen Kinn. Ihre Brille ist von der modernen Sorte, ohne Einfassung, mit sehr kleinen Gläsern. Hinter diesen Gläsern sieht er türkisblaue Augen. Sie betrachten ihn gleichgültig.
»Ich bin gekommen, um ein wenig Ordnung zu schaffen«, sagt Charlo, seine Stimme ist stark und fest, wenn die anderen hören können, was er sagt, dann ist das gut so, er ist ein Vorbild, dem sie nacheifern sollten.
»Es ist so, daß ich Arbeitslosenhilfe beziehe. Und zwar seit zwei Jahren.«
Sie wartet. Sie hat ganz runde Pupillen, sieht er, und das Leben hat es nicht gut mit ihr gemeint, die Iris ist fleckig. Er ist davon überzeugt. Daß sich Schmerz und Verzweiflung in den Augen abzeichnen. Nur Kinder haben ganz klare Augen, ohne Trübungen und Flecken.
»Aber jetzt habe ich Arbeit. In einem Reitzentrum. Als Mann für alles. Es ist nichts Großartiges, für den Anfang nicht, ich werde wohl zeigen müssen, was ich kann, und mich unersetzlich machen, dann kommt später vielleicht mehr dabei heraus. So habe ich das jedenfalls vor. Was meinen Sie?« fragt er und lächelt sie an.
»Ja«, sagt sie, »das klingt nach einer guten Taktik.« Sie lächelt auch, ein kurzes Lächeln. Bittet um Namen und Personenkennziffer. Sie ist von der Sorte, die erst einmal warm werden muß, das ist unverkennbar. Manche Menschen kommen nicht aus sich heraus, wenn man sie nicht ein wenig umwirbt, aber das kann er gut. Konnte er gut. Er stützt die Ellbogen auf den Schalter, legt das Kinn in die Hände, sorgt für Blickkontakt.
»Aber es ist nur ein kleiner Job«, sagt er. »Ich kann davon nicht leben. Ich gehe davon aus, daß ihr mir die Stütze kürzen werdet, aber wieviel ich verdienen werde, kann ich nicht sagen. Noch nicht. Ich habe doch gerade erst angefangen. Oder genauer gesagt, ich fange heute an.«
»Dann werden wir das später klären«, sagt sie und mustert ihren Bildschirm.
Es ist nicht leicht, sich vor den Behörden zu verstecken, ein Tastendruck und schon hat sie alles über ihn. Geboren 1963, Adresse Blomsgate 20.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, was Sie verdienen werden?«
»Es kann sich vielleicht um eine halbe Stellung handeln. Aber über den Stundenlohn haben wir noch nicht gesprochen.«
Sie tastet weiter, kneift hinter ihrer Brille die Augen zusammen.
»Sie müssen beim Sozialamt Bescheid sagen. Ich sehe nur die Lösung, daß Sie mit Ihrer Gehaltsabrechnung herkommen«, sagt sie und sieht ihn an.
»Ich kann sie mit der Post schicken.«
»Das geht auch.«
Sie macht die nötigen Notizen. Charlo wartet geduldig.
»Ich dachte, ich wollte lieber gleich Bescheid sagen«, sagt er. »Ich will ja nachher keine Probleme haben. Mit den Behörden. Wegen Betrug oder so.«
»Da bin ich ganz Ihrer Ansicht. So was finden wir ja doch heraus. Aber es gibt genug, die es versuchen.«
»Wie können die das wagen«, sagt er ruhig und hält ihren türkisen Blick fest.
Dann geht er hocherhobenen Hauptes durch den Raum und hinaus.
Jetzt, da er sein goldenes Vorhaben ausgeführt hat, fährt er los. Aufs Geratewohl zuerst, kreuz und quer durch die Straßen der Stadt. Er sieht sich Leute und Gebäude an, will Zeit totschlagen. Damit es Nachmittag wird, damit er Julie abholen kann. Er sieht den Glitzerschmuck der Stadt, ihm gefallen die vielen Lichter, wie sie sich im Fluß widerspiegeln, die Scheinwerfer, die ihm entgegenkommen, weiß, gelb oder bläulich. Eine Schokoladenreklame, eine Uhr an einer Wand, es ist halb zehn. Auf einmal ist er in der Elvegata und fährt in den Tunnel, dann hinaus auf die Landesstraße 134. So fährt er weiter, ohne nachzudenken. Er ist unterwegs nach Hamsund. Zu seiner Linken fließt der Fluß, schwarz und kalt und wild, er macht ihn nervös mit seiner unermüdlichen Stärke. Der Fluß strömt dahin, unaufhaltsam, wie auch sein eigenes Leben sich weiterbohrt bis zu dem Augenblick, vor dem er sich am meisten fürchtet. Dem unvermeidlichen Augenblick der Wahrheit. Es gibt vieles, wovor er sich fürchten
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