Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
es schön war, über diesen Friedhof zu gehen.
»Ja«, sagt sie. »Hier sind wir richtig. Das ist, wie nach Hause zu kommen. Aber manchmal ist das Leben zu schwer zu begreifen. Daß so etwas passieren kann.«
»Es gibt für alles eine Erklärung«, sagt Charlo und schaut hinunter auf den grünen Kranz.
Sie schüttelt ihr weißes Haupt. »Für das hier nicht. Das ist der pure Wahnsinn.«
Ihn überkommt der unbändige Drang, ihr alles zu erklären. Daß er keineswegs verrückt ist, daß er ebensosehr ein Mensch ist wie sie. Sein Kopf scheint platzen zu wollen, seine Ohren rauschen. Aber ihr Blick ist jetzt anders, sie scheint ihn erst jetzt deutlich zu sehen. Ihre blauen Augen sehen scharf genug, natürlich macht sie sich so ihre Gedanken. Diese Begegnung verstört ihn ebenso wie der Zusammenprall. Er nickt ihr kurz zu und verschwindet so schnell er kann, läuft zu seinem Auto. Bleibt lange dort sitzen und ist unglücklich. Es quält ihn bis ins Mark, daß sie ihn dort gefunden hat, am Grab.
Da ist sie!
Da kommt Julie angelaufen, er sieht sie sofort, ihre roten Haare leuchten in der Schar der Jugendlichen. Ihr Körper hat eine neue Kraft gewonnen, einen Eifer, den er schon lange nicht mehr gesehen hat. Sie wirft ihre Schultasche nach hinten und läßt sich auf den Sitz fallen, die Federn schaukeln ein wenig. Sie ist warm und außer Atem. Endlich kann er sich entspannen, er konzentriert sich auf Julie. Er ist noch immer unsicher in seiner neuen Rolle, daß er nun endlich wieder Vater sein darf. Will sie wirklich bei ihm sein? Sie schnallt sich an, schaut ihn von der Seite an. Ihre Stimme klingt fröhlich und munter.
»Hast du an Möhren für Crazy gedacht?«
Er lächelt und sagt ja, er hat an Möhren gedacht.
Charlo schaltet, er denkt, hier fahren wir, meine Tochter und ich, wir sind befreundet. Das habe ich mir immer gewünscht. Ich bin bis zum Äußersten gegangen, aber ich bin dahin gekommen, wo ich hinwollte. Wieder korrigiert er sich. Er hat sich ja nicht hierher gewünscht, er hat sich nur Julie gewünscht. Habe ich sie jetzt, überlegt er, wird sie immer bei mir bleiben?
»Woran denkst du?« fragt Julie.
Charlo überlegt. Wäre gern ehrlich. Um eine gute Beziehung ohne Lüge und Verrat aufzubauen.
»Ich denke an Dinge, vor denen ich mich fürchte«, sagt er. »Daran, wovor ich mich im Moment am allermeisten fürchte.«
»Und was ist das?« will sie wissen. Sie lächelt dabei. An ihrem Himmel gibt es keine Wolke, sie will keinen Ernst.
Die Antwort rutscht ihm einfach heraus.
»Meine Gesundheit.«
»Was?« Sie schaut ihn überrascht an. »Aber du bist doch immer gesund.«
»Ja«, sagt er eilig. »Aber ich rauche. Du weißt, wir leben nicht so lange wie andere.«
Er hält an, um einem Auto die Vorfahrt zu geben.
»Jede einzelne Zigarette ist schädlich für mich«, sagt er dramatisch.
Wieder lacht sie ein perlendes Lachen, es füllt das ganze Wageninnere. Sie zieht ein Haargummi hervor und bindet sich einen Pferdeschwanz. Er sieht ihren schmalen Hals an, die anmutige Art, wie sie ihren Kopf hält, den schön geschwungenen Nasenrücken. Das ist sein eigen Fleisch und Blut, darauf hat er ein Anrecht, nicht wahr? Dafür war er bereit zu töten. Nein, er war nicht bereit, er fand nur keine andere Möglichkeit. Was ist mit der Alten auf dem Friedhof, was denkt sie jetzt wohl? Und was zum Teufel ist mit meinen Knien los? Nein, er will nicht daran denken, er hat auch sonst genug Dinge, die ihm Sorgen machen, die ihn verfolgen. Seine Gedanken drehen sich im Kreis, während seine Hände auf dem Lenkrad ruhen, während sein Herz das Blut weiterpumpt. Er hat sein eigenes Schicksal gewendet, und er denkt über seine Untat, daß sie mutig und feige zugleich war. Daß er bereit war, für einen anderen Menschen soweit zu gehen, daß er nicht länger ein Opfer sein wollte.
»Manchmal flimmert es mir vor den Augen«, gibt er zu.
»Ach ja?« Sie mustert ihn von der Seite, und er erwidert ihren Blick.
»Kannst du da etwas sehen? Manchmal finde ich, daß sie seltsam aussehen.«
Er hält vor einer roten Ampel und sieht sie an. Sie starrt.
»Wieso denn seltsam?«
»Ach, irgendwas mit den Pupillen. Die sehen komisch aus.«
Sie beugt sich vor und mustert ihn forschend. Dann kichert sie.
»Jetzt hör aber auf. Die sind ganz normal.«
Er zwinkert einige Male vor Erleichterung.
»Es tut gut, frei zu sein«, sagt er und schaltet wieder.
Sie dreht den Kopf und sieht ihn an.
»Wie meinst du das jetzt.
Weitere Kostenlose Bücher