Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
sitzt am Steuer. Charlo begegnet seinem Blick im Spiegel und wendet sich verbittert ab. Er will ihnen nichts geben, nicht einen Gedanken, nicht ein Wort. Sie wissen nicht, aus welchem Stoff er ist, wie fest er sich im Griff hat. Er senkt den Kopf und konzentriert sich auf den Reißverschluß an seiner Jacke. Er krümmt die Zehen, die fühlen sich gesund an. Teufel auch, was hat er für tolle Zehen, die gehorchen auf den leisesten Wink. Der Arzt hat sich geirrt. Sejer tappt im Dunkeln. Jetzt will er vermutlich alles auf eine Karte setzen, und er wird verlieren. Ich platze nicht, denkt Charlo, ich muß nur einen klaren Kopf bewahren, ich darf mich nicht aufgeben. Der Polizist fährt langsam, sie sitzen in einem Ford Mondeo. Die kurze Fahrt zur Wache dauert eine Ewigkeit. Noch immer hat er das Gefühl, die Stadt zum ersten Mal zu sehen, in einem plötzlichen Anfall von Erkenntnis. Da liegt Cash & Carry, da ist Tinas Blumenladen. Da hängt ein Model in dünner Spitzenunterwäsche an der Wand, mit holdem Lächeln, wie immer. Da ist die Kirche auf einer Anhöhe über der Stadt, da die Feuerwache mit den schönen Türmen. Er sieht das Gericht auf der rechten Seite aufragen. Sejer öffnet ihm die Tür und Charlo steigt aus. Er richtet sich im Sonnenschein auf, füllt seine Lunge mit Luft. Er kämpft gegen eine Art Benommenheit, er darf die nicht an sich heranlassen, er muß jeden Muskel in seinem Körper anspannen und auf der Hut sein. Den anderen zuvorkommen. Das hier wird wie eine Schachpartie, denkt er, und er war früher einmal ein sehr guter Schachspieler. Er bleibt eine Weile stehen und nimmt alles in sich auf, die Sonne, die die Fenster funkeln läßt, einen schönen Baum mit nackten Zweigen, Menschen, die durch die Straßen spazieren. Das wollen sie ihm wegnehmen. Aber das wird sie verdammt viel kosten, denkt er und geht durch die Tür. In der Rezeption ist es dunkel. Das Haus nimmt ihn in sich auf.
IRRITATION UND NERVOSITÄT wirken wie eine starke Bremse auf seinen Körper. Sie machen seine Bewegungen abrupt und hitzig, er kann das nicht verhindern, auch wenn er lieber langsam, überlegen und geschmeidig wäre. Er will ins Zimmer schlendern, sich mit ausgesuchter Langsamkeit auf den Stuhl setzen, sicher und gelassen und obenauf sein. Aber er ist nicht sicher. Er zieht den Stuhl vom Tisch weg, der kratzt wütend über den Boden. Er verdrängt die Krankheit, plaziert die Füße fest auf dem Boden, konzentriert sich auf seine Unschuld. Die er während der Vernehmung vermitteln will, dazu fühlt er sich berechtigt, er wollte es ja nicht, es ist einfach passiert, und das muß er diesem graumelierten Mann klarmachen. Sein Blick fällt auf den Hund Frank Robert. Der hat an der Wand gelegen, jetzt kommt er auf großen Pfoten angetapst und will guten Tag sagen. Charlo kann der Versuchung nicht widerstehen, sich zu bücken und den runzligen Hund zu streicheln. Seine Finger verschwinden im Fell, das fühlt sich seltsam an, wie Sandpapier. Er schaut in die schwarzen Augen. Einen Moment lang glaubt er, daß sie eine sanftmütige Seele widerspiegeln. In der nächsten Sekunde sieht er nichts, sie leuchten nur, wie Knöpfe. Sejer wandert im Zimmer hin und her, Charlo sieht von der Seite zu ihm hinüber, Sejer wirkt zielstrebig und scheint sich wohl zu fühlen. Er zieht Papiere aus einem Regal, schaut kurz auf die Armbanduhr, setzt sich auf seinen Stuhl. Alles geschieht mit langsamen Bewegungen, einer Langsamkeit, über die Charlo sich ärgert.
»Ich finde wirklich, daß Sie mir eine gute Erklärung schuldig sind«, sagt er mit harter Stimme.
Er will sich entschieden anhören, aber das gelingt ihm nicht so ganz. Sejer schaut zu ihm auf. Seine Augen sind zuerst todernst, dann werden sie milder.
»Ja«, sagt er und stützt die Ellbogen auf den Tisch. »Es gibt mehrere Dinge, in denen ich Klarheit brauche. Sie wissen, wie das ist, wir arbeiten langsam und methodisch. Ermittlungen brauchen ihre Zeit. Ab und zu müssen wir die Leute mit Fragen nach ihren Unternehmungen belästigen. Es tut mir leid, daß Sie sich belästigt fühlen, aber unsere Arbeit ist sehr wichtig.«
Er schaut Charlo über den Tisch hinweg an.
»Fangen wir also an. Wir nehmen uns noch einmal diesen Tag vor, den 7. November. Von Anfang an.«
Charlo erwidert seinen Blick.
»Ich habe über diesen Tag alles gesagt, was ich zu sagen habe, und Sie haben sich Notizen gemacht. Ich habe viel mehr gesagt, als ich sagen muß, ich hab dieses Drumherumgerede satt, stellen
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