Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Furchtbare Bilder tauchen vor ihm auf. Er selbst, in einem Sessel, eine Decke über den Knien. Eine Bettpfanne, teilweise unter der Decke versteckt, schlaffe, weiße Füße ohne Kraft und Kontrolle. Körper und Gesicht deformiert von Kortison, der Gestank von Krankheit, von körperlichem Zerfall. Nur Zuschauer beim Rest der Welt. Zusehen, während die anderen leben, handeln und arbeiten. Oder schlimmer noch, er wird bettlägerig. Eines Morgens wacht er auf und kann nicht mehr aufstehen. Er muß in ein Pflegeheim und verwelkt in einer Ecke, zusammen mit einer Gruppe alter Menschen, trockener, bleicher Menschen mit weltabgewandten, glasigen Blicken. Er trinkt durch einen Strohhalm roten Saft und darf nicht rauchen. Er kann sich nicht vom Fenster losreißen, aus dieser Haltung. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Er vibriert wie ein Becken, jemand hat ihn hart geschlagen, seine Ohren klingeln. Da kommt Nachbar Erlandson, hebt die Hand und winkt. Er kann nicht zurückwinken, kann keinen Entschluß fassen, der nächste Schritt ist unmöglich. Ruhig jetzt, du brauchst Luft in deine Lunge, Charlo, dir bleibt noch viel Zeit. Vielleicht.
Er geht ins Badezimmer. Steht lange unter der Dusche und seift seinen kranken Leib ein. Er schaut an seinen Oberschenkeln hinunter, seinen Armen, Händen und Füßen. Alles erscheint ihm in einem anderen Licht. Gibt es noch weitere Geheimnisse in seinem Körper? Gärt da noch mehr, wird bald ausbrechen und ihn zu Boden schlagen? Inga Lill, du weißt es nicht, aber ich muß eine Hölle durchmachen. Warum du und ich? Was soll aus Julie werden? Was liegt in ihren Genen für ein Elend, sind wir eine verfluchte Familie? Wozu soll es gut sein, ein ehrliches Leben zu führen, wenn alles von Anfang an vorbestimmt ist, nicht bekämpft werden kann? Wozu soll es gut sein, daß ich mich für Møller abrackere, wenn ich vielleicht doch im Rollstuhl ende? Er verläßt die Dusche und empfindet die Diagnose wie eine beträchtliche Gewichtszunahme. Vor allem Schultern und Brust werden dadurch beschwert. Die Diagnose haftet ihm an wie etwas Klebriges, etwas, das nicht weggewaschen werden kann, die Minuten unter der Dusche geben ihm kein Gefühl von Reinheit. Er reibt sich mit dem Handtuch ab, seine Bewegungen werden trotzig, aber die Wut, die jetzt in ihm zu kochen beginnt, kann nicht ausbrechen. Es kommen nur kurze heftige Atemzüge in dem dampfenden Raum.
Er muß Julie anrufen. Zuerst muß er sich vorbereiten, die Wahrheit kann er ihr nicht sagen, er muß ihr ausweichen und etwas servieren, was Julie als harmlos auffaßt. Etwas, das vorübergeht, das nicht erblich ist, nicht ansteckt. Er geht zum Telefon und wählt die Nummer. Die Stimme am anderen Ende der Leitung treibt ihm die Tränen in die Augen, und für einen Moment möchte er mit allem herausplatzen. Um Trost zu bekommen, Fürsorge, Mitgefühl. Alles, was er so dringend braucht. Aber er reißt sich zusammen, findet sein Gleichgewicht wieder und wird stark.
»Ja«, sagt er, »jetzt ist es vorbei, jetzt bin ich wieder zu Hause, zum Glück. Was sie gesagt haben? Ach, nicht der Rede wert. Einfach eine Art Virus, in ein paar Nerven. Es wird vermutlich von selbst gehen, und wenn nicht, bekomme ich Medizin. – Nein, ich bin nicht mehr krank geschrieben, ich kann wieder arbeiten, es gibt keine Restriktionen. Ich muß einfach so weitermachen.
Nein, sie wissen nicht, wie das entsteht, sie bezeichnen das als Mysterium, aber die Leute schaffen das jahrelang ohne Probleme, es gibt keinen Grund zur Sorge. Es könnte viel schlimmer sein. Du weißt doch, ich bin gut in Form, ich bin nicht so schnell umzuwerfen.«
»Holst du mich ab?« fragt sie dann.
»Ja, ich hole dich ab. Wo möchtest du essen? Wie wäre es mit Hannas Kjøkken?«
»Das ist doch so teuer.«
»Darauf pfeife ich«, sagt er keck.
Sie lacht. Er entspannt sich ein wenig. Vielleicht kann er die Krankheit durch Willenskraft bezwingen. Er hat so etwas gehört, er hält alles für möglich. Sich hart machen, den Prozeß zurückzwingen. Sich immun machen.
»Ich bin in einer halben Stunde bei dir«, sagt er in den Hörer. »Muß nur ein Hemd überziehen.« Er legt auf und geht ins Badezimmer. Steht vor dem Spiegel und knöpft das Hemd zu. Er holt sich eine graue Hose und betrachtet das Resultat. Er sieht doch gut aus. Er sieht nicht aus wie ein Kranker, und da braucht er sich auch nicht wie einer aufzuführen. Aber dennoch. Verfall. Schmerzen. Hilflosigkeit. Ins Krankenhaus eingeliefert und wieder
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