Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
entlassen. Was für ein Leben steht ihm bevor? Hilfe bei allem. Ein Körper, der schrittweise schwächer wird und am Ende dann gänzlich unbrauchbar ist. Den Rest des Lebens auf Sozialhilfe angewiesen. Er läuft in der Wohnung hin und her, quält sich mit einem Chaos von Gedanken und fährt zusammen, als es plötzlich an der Tür klingelt.
SEJER STEHT auf der obersten Treppenstufe.
Adrett gekleidet, hellblaues Hemd, frisch gebügelt, elegant und überlegen.
»Herr Torp. Lange nicht mehr gesehen.«
Der graue Blick ist scharf. Charlo weicht zurück, der Trotz steigt in ihm hoch. Wieso können die ihn nicht in Ruhe lassen? Er hat jetzt soviele andere Sorgen, er ist ein kranker Mann, er ist mit Julie verabredet. Er schaut Sejer wütend an.
»Was ist los?«
Er macht sich in der Tür breit, sein Blick ist hart. Heute steht er nicht zu Diensten, in keinerlei Hinsicht. Sein Kopf ist schon voll mit Katastrophen, wie unterschiedlich das ausgehen kann, was ihn da getroffen hat. Er holt Luft und reißt sich zusammen.
»Ich habe zu tun.«
Sejer sieht ihm fest in die Augen.
»Sie müssen mit uns auf die Wache kommen, Torp.«
Er wirft einen Blick auf die Straße. Charlo tritt wieder vor. Jetzt entdeckt er den Streifenwagen. Ein Uniformierter sitzt hinter dem Lenkrad.
»Nein«, sagt er wütend. »Sie müssen schon entschuldigen, aber ich kann jetzt nicht.«
Sejer lächelt steif.
»Möglich, aber wir können.«
Er steht unverändert gelassen da, unverändert stark und gebieterisch. Charlo schüttelt wütend den Kopf, tritt wieder einige Schritte zurück.
»Es ist so«, sagt er heftig, »daß ich vor einer Stunde aus dem Krankenhaus gekommen bin. Ich habe viel durchgemacht, und außerdem habe ich eine Verabredung. Ich habe wirklich keine Zeit«, sagt er und schaut demonstrativ auf seine Armbanduhr. Er kocht, er zittert. Er hat Angst, die Besinnung zu verlieren und loszubrüllen.
»Wir wissen, daß Sie im Krankenhaus waren, Torp. Ich kann nur bedauern, wenn wir ungelegen kommen«, sagt Sejer. »Aber diesmal haben Sie keine Wahl. Sie müssen zur Vernehmung mit uns auf die Wache kommen. Jetzt sofort.«
Eine Vernehmung. Kein Gespräch. Charlo schlägt die Arme übereinander und schaut Sejer verbittert an. Ihm fällt ein, daß er den Unschuldigen spielen muß. Das passiert nicht, denkt er, das ist nur einer von meinen Träumen, das kommt ihm bekannt vor.
»Das muß doch einen Tag Zeit haben«, sagt er und fuchtelt ärgerlich mit der Hand. »Meine Tochter wartet auf mich, wir wollen essen gehen, ich muß jetzt los.«
Sejer kommt einen Schritt näher. »Rufen Sie Ihre Tochter sofort an und sagen Sie die Verabredung ab.«
Jetzt ist seine Stimme ein tiefer Befehl.
»Wie lange wird das dauern? Ich kann es vielleicht um ein oder zwei Stunden verschieben? Reicht das?«
»Nein. Sie rufen an und sagen ab, und dann kommen Sie mit uns mit.«
Charlo ringt um Luft. Er ärgert sich dermaßen über diese Schikane, daß ihm der Schweiß auf die Stirn tritt. Dann macht er auf dem Absatz kehrt, geht ins Wohnzimmer, nimmt den Hörer von der Gabel und wählt Julies Nummer. Er drückt die verdrehte Telefonschnur zwischen seinen Fingern zusammen.
»Hallo, hier ist noch mal Papa. Ich komme erst später. Es ist etwas passiert, was ich vorher noch in Ordnung bringen muß. Ja, ich werde dir alles erklären, warte einfach auf mich, ich komme dann nachher. Nein, du brauchst keine Angst zu haben, es ist nur eine blöde Bagatelle, aber es kann eben nicht warten. Ich kann anrufen, wenn ich mich auf den Weg zu dir mache, wenn du willst. Nein, das sind keine Freunde von mir, es ist nur alter Kram, der geklärt werden muß. Ja, sofort. Ich rufe an, wenn ich fertig bin. Mach’s gut, bis nachher.«
Er legt auf, bleibt stehen und wiegt sich auf den Absätzen hin und her. Er hat das Gefühl, neben sich zu stehen, alles ist unwirklich. Aber er weiß, daß es kein Traum ist. Es geschieht jetzt, sie sind gekommen, um ihn zu holen.
Er setzt sich hinten in den Streifenwagen.
Er denkt daran, was ihn getroffen hat. Das zentrale Nervensystem wird ihn nach und nach im Stich lassen. Alles hinter den Fenstern scheint weit weg zu sein, er ist ein Tourist in seiner eigenen Straße, in seinem eigenen Leben. Er wohnt seit Jahren in dieser Straße, jetzt sieht er alles zum ersten Mal, die niedrigen braunen Holzhäuser, die schönen Hecken, die Ziersträucher vor den Hauswänden, sie werden bald blühen und die ganze Straße schmücken. Ein junger lockiger Polizist
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