Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
ihn ein heftiger Brechreiz. Ihm stehen Tränen in den Augen. Er krümmt sich im Sessel zusammen und verzweifelt, während er an die Worte des Arztes denkt. Dieses verdammte Futter, es verwittert, das ist nicht zu ertragen. Er sieht die Nerven vor sich wie ein Netz aus alten, zerbröckelnden Leitungen, die keinen Strom mehr führen. Von jetzt an wird er langsamer und schwächer werden. Von jetzt an wird er erleben, daß seine Beine ihm nicht gehorchen, sein Gehirn wird Befehle aussenden, die niemals ankommen. Er befiehlt seinen Füßen, auf dem Boden hin und her zu wippen. Das tun sie, ohne Probleme, und langsam ist er auch nicht. Jetzt ganz ruhig bleiben, nicht schreien. Die Prognose ist gar nicht so schlecht, natürlich gehört er zu denen, bei denen es nicht schlimm wird, da ist er sich sicher. Er steht auf und dreht zwei Runden durch das Zimmer. Redet streng auf sich ein. Jetzt gibt es in ihm zwei Stimmen, die sich streiten.
Meinst du, du kommst billiger davon als andere, hältst du dich für unverwundbar?
Habe ich nicht genug durchgemacht in meinem schäbigen Leben, das ist so verdammt ungerecht, das habe ich nicht verdient.
Jetzt vergißt du einen wichtigen Umstand. Denk an das, was du getan hast. Denk darüber nach.
Soll ich jetzt bestraft werden, ist das so zu verstehen?
Auf irgendeine Weise mußt du büßen. Wir reden hier von einer Rechnung, die nicht aufgeht.
Ich helfe Harriet Krohn nicht, wenn ich in einem Rollstuhl herumgefahren werde.
Sag das nicht. Irgendwann mußt du sterben. Dann sollte die Rechnung bezahlt sein.
Ich bin niemandem etwas schuldig, ich habe Pech gehabt, verdammt noch mal!
Ein Impuls treibt ihn zum Bücherregal. Dort zieht er ein Nachschlagewerk hervor, den achten Band. Er schlägt den Buchstaben M auf und fängt an zu suchen. Multiplum, multiple Persönlichkeit, und dann, multiple Sklerose. Sein Blick fliegt über die Seite. Sclerosis multiplex, vom griechischen skleros, hart, und vom lateinischen multiplex, vielfältig. Eine chronische Nervenkrankheit, deren Ursachen trotz intensiver Forschung noch immer unbekannt sind. Bei der Untersuchung von Gehirn und Rückenmark von an MS gestorbenen Patienten läßt sich ein Schwund der die Nervenfasern umgebenden Marksubstanz nachweisen. Außerdem kommt es zu einer Vergrößerung des Bindegewebes in Gehirn und Rückenmark. Das führt zu narbenartigen Veränderungen, die härter sind als das normale Gewebe des zentralen Nervensystems, und denen die Krankheit ihren Namen verdankt. Diese Veränderungen verbreiten sich oft in Gehirn und Rückenmark, und die Bezeichnung »multipel« bezieht sich auf diesen Sachverhalt. Über die Ursache wird ausgiebig spekuliert, zu beweisen war bisher nichts. Infektion, vor allem durch Viren, Vergiftungen, Mangel an gewissen Stoffen in der Nahrung, Allergie und viele andere Ursachen sind bereits vorgeschlagen worden. Vor allem zwei Hypothesen werden häufig vorgebracht. Die eine ist, daß die Krankheit durch eine Virusinfektion mit sehr langer Latenzzeit ausgelöst wird, weshalb sie sich erst spät zu erkennen gibt und sich zudem äußerst langsam entwickelt. Die andere Hypothese besagt, daß die Krankheit mit der Immunabwehr zusammenhängt, daß also der Organismus auf sein eigenes Gewebe allergisch reagiert.
So. Ist er also gegen sich selbst allergisch? Er schüttelt den Kopf und liest weiter.
Die Symptome äußern sich als Steifheit in den Muskeln und mangelnde Kontrolle über die Bewegungen, vor allem der Beine. Sehstörungen und Doppelbilder sind ebenfalls häufig. Muskelspannungen und Zuckungen können überaus lästig sein. Bisher gibt es keine Behandlung, die zur Heilung führt. Hormonbehandlung, vor allem mit ACTH und ähnlichen Präparaten, scheint die akuten Krankheitsattacken verkürzen zu können. Es gibt auf der ganzen Welt Selbsthilfegruppen, auch in Norwegen.
Er knallt das Buch wieder zu.
Nein, er wird keiner Gruppe beitreten, er will nichts von dieser Krankheit wissen, er will auch nichts von anderen wissen, die daran leiden, er will nicht mit ihnen sprechen. Er geht zum Fenster und bleibt stehen, die Hand vor dem Mund. Schmiegt die Stirn an das kühle Glas. Das passiert jetzt, in seinem Körper, die Sehnenscheiden werden zerfressen, und er kann nichts daran ändern. Es passiert, während er hier steht und in seine Hand atmet, es wird bis an sein Lebensende so bleiben. Großer Gott, jetzt muß er bezahlen. Rasch schaut er zum Himmel hoch, der ist so verdammt blau wie eh und je.
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