Der Mord zum Sonnntag
würde sie die restliche Post gemeinsam mit Sammy
sichten, den Brief, den sie gefunden hatten, zu Scott
Alshorne bringen. Möglicherweise verlangte er, daß sie
ihn direkt dem Staatsanwalt in New York übergab.
Verschaffte sie Ted ein Alibi? Und für wen hatte er sich
interessiert?
Als sie auf der Leiter hinauskletterte, erschauderte sie.
Die Nachtluft hatte sich stark abgekühlt, und sie war
länger als beabsichtigt im Wasser geblieben. Sie schlüpfte
in den Bademantel und holte die Armbanduhr aus der
Tasche. Die Leuchtziffern zeigten halb elf.
Sie meinte, hinter den Zypressen am Rand der Terrasse
ein raschelndes Geräusch zu vernehmen. «Wer ist da?»
Sie wußte, daß ihre Stimme nervös klang. Keine Antwort.
Sie ging zum Rand der Terrasse und spähte angestrengt
über die Hecken zu den Bäumen hinüber. In der
Dunkelheit wirkten die Silhouetten der Zypressen bizarr
und unheildrohend, doch bis auf das schwache Rascheln
der Zweige bewegte sich nichts. Die kühle Seebrise
frischte auf. Natürlich, das war die Erklärung.
Mit einer resoluten Geste wickelte sie sich in den
Bademantel und zog die Kapuze über das Haar.
Doch das unbehagliche Gefühl hielt an, und sie
beschleunigte ihre Schritte, als sie den Weg zu ihrem
Bungalow einschlug.
Er hatte Sammy nicht angefaßt. Aber es würden Fragen
gestellt werden. Was hatte sie in den Thermen zu suchen?
Er verwünschte die offenstehende Tür, die ihn veranlaßt
hatte, hineinzulaufen. Wäre er einfach um das Gebäude
herumgegangen, hätte sie ihn nie erwischt.
Der Umstand indes, daß sie den Brief bei sich hatte, daß
er ihr aus der Tasche gefallen war – das war einfach
Glück. Sollte er ihn vernichten? Er wußte es nicht recht.
Das war ein zweischneidiges Schwert.
Jetzt steckte er den Brief in seinen Taucheranzug. Die
Tür zum römischen Bad war zugeschnappt. Der Wächter
hatte seine Runden absolviert und würde in dieser Nacht
nicht mehr aufkreuzen. Langsam, mit unendlicher
Vorsicht näherte er sich dem Schwimmbecken. Ob sie
noch dort war? Höchstwahrscheinlich. Sollte er die
Gelegenheit beim Schopf packen und es riskieren? Zwei
Unfälle. War es riskanter, als sie am Leben zu lassen?
Elizabeth würde Aufschluß verlangen, wenn man Sammys
Leiche fand. Hatte Elizabeth diesen Brief gesehen?
Er hörte das Wasser im Becken plätschern. Vorsichtig trat
er hinter dem Baum hervor und beobachtete die im Wasser
dahinschnellende Gestalt. Er müßte warten, bis sie das
Tempo verlangsamte. Dann wäre sie auch entsprechend
ermüdet. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt …
Zwei Unfälle in einer Nacht, die nichts miteinander zu tun
hatten. Würde es in dem darauffolgenden Durcheinander
gelingen, die Leute auf der falschen Fährte zu halten? Er
machte einen Schritt nach vorn in Richtung
Schwimmbecken.
Und sah ihn. Hinter dem Gebüsch stehend. Elizabeth
beobachtend. Was tat er dort? Argwöhnte er, daß sie in
Gefahr schwebte? Oder war er ebenfalls zu dem Schluß
gelangt, daß sie ein untragbares Risiko darstellte?
Der Taucheranzug glänzte feucht vom Nebel, als sein
Träger lautlos hinter die schützenden Zypressenzweige
glitt und in der Dunkelheit verschwand.
Dienstag, 1. September 1987
Das Wort zum Tage: Der Liebsten, Allerschönsten, die
meines Lebens Glück und Wonne. Guten Morgen,
CHARLES BAUDELAIRE
bonjour unseren lieben Gästen.
Heute früh ist es ein wenig frischer draußen, also
wappnen Sie sich für das belebende Prickeln der kühlen,
klaren Luft.
Naturfreunden bieten wir einen halbstündigen
Spaziergang nach dem Lunch an; er führt an unserer
unvergleichlichen Pazifikküste entlang und gibt Ihnen
Gelegenheit, die einheimische Flora zu erkunden. Falls
Ihnen der Sinn danach steht, erwartet Sie unser
sachkundiger Führer um 12 Uhr 30 am Haupttor.
Ein aktueller Tip. Unsere Speisenfolge bietet am
heutigen Abend besonders erlesene Köstlichkeiten. Ziehen
Sie Ihre schönsten, kleidsamsten Sachen an und laben Sie
sich an unseren Leckerbissen in dem angenehmen
Bewußtsein, daß Ihnen die Schlemmergerichte höchsten
Genuß bei niedrigstem Kaloriengehalt sichern.
Ein bleibender Gedanke. Schönheit liegt im Auge des
Betrachters, aber wenn Sie in den Spiegel schauen, sind
Sie der Betrachter.
Baron und Baronin von Schreiber
1
Der Morgen begann gerade zu dämmern. Min lag
hellwach in dem überbreiten Himmelbett, das sie mit
Helmut teilte. Vorsichtig, um ihn ja nicht zu wecken,
drehte sie ihm den Kopf zu, stützte
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