Der Mord zum Sonnntag
gesehen hatte.
Den Abhang hinauf näherten sich Scheinwerfer – der
Torwächter machte seine Runde im zweirädrigen
Geländewagen. Die Gestalt im Taucheranzug lief auf das
römische Bad zu, dessen Tor nur angelehnt war.
Wahrscheinlich hat sich Helmut, dieser Narr, nachmittags
nicht die Mühe gemacht abzusperren, dachte Dora.
Mit zitternden Knien jagte sie hinter der Gestalt her. Der
Wächter mußte jeden Augenblick vorbeifahren, und sie
wollte den Eindringling nicht entwischen lassen. Zögernd
betrat sie das römische Bad.
Die Eingangshalle war ein riesiger offener Raum mit
marmorverkleideten Wänden und zwei völlig gleichen
Treppen am anderen Ende. Von den japanischen Laternen
in den Bäumen fiel genug Licht herein, so daß Dora
erkennen konnte: Dieser Bereich war leer. Seit ihrem
letzten kurzen Besuch hier drin vor ein paar Wochen
waren sie mit den Arbeiten tatsächlich ein gutes Stück
vorangekommen.
Durch die Türöffnung links sah sie den Lichtstrahl einer
Taschenlampe. Der Bogengang führte zu den
Umkleideräumen, und dahinter befand sich das erste der
Meerwasserbecken.
Für eine Sekunde gewann Furcht die Oberhand über ihre
Empörung. Sie beschloß, draußen auf den Wächter zu
warten.
«Dora, hier rein!»
Die vertraute Stimme – ihr wurde ganz schwach vor
Erleichterung. Vorsichtig durchquerte sie die dunkle Halle
und gelangte durch den Umkleideraum in die Nähe des
Innenbeckens.
Er erwartete sie, in der Hand die Taschenlampe. Der
schwarze Taucheranzug, die dicke Taucherbrille, der
geduckte Kopf, die jähen ruckartigen Bewegungen der
Taschenlampe ließen sie zurücktaumeln. «Um Himmels
willen, nehmen Sie doch das Ding weg, ich kann ja nichts
sehen», sagte sie.
Ein dicker schwarzer Taucherhandschuh streckte sich
drohend nach ihr aus, griff nach ihrer Kehle. Der
Lichtstrahl der Taschenlampe richtete sich auf ihre Augen,
blendete sie.
In panischer Angst begann Dora zurückzuweichen. Sie
hob die Hände, um sich zu schützen, und merkte nicht,
daß ihr dabei der Brief aus der Jackentasche gefallen war.
Sie nahm kaum wahr, daß sie ins Leere trat, bevor sie
rücklings stürzte.
Ihr letzter Gedanke, bevor sie mit dem Kopf auf den
scharfkantigen Betonboden des Beckens aufschlug, war,
daß sie nun endlich wußte, wer Leila getötet hatte.
10
Elizabeth durchquerte das Schwimmbecken im
Rekordtempo. Der Nebel begann hereinzubrechen – trieb
in Schwaden heran, verhüllte das umliegende Gebäude,
lichtete sich gleich darauf wieder. Ihr war es lieber, wenn
er alles verdunkelte. Dann konnte sie sich ganz
ausarbeiten, wohl wissend, daß sich durch die körperliche
Anstrengung irgendwann die innerlich aufgestaute Angst
lösen würde.
Sie erreichte das Nordende des Beckens, berührte den
Rand, holte tief Luft, wendete und jagte im Bruststil die
Bahn zurück. Sie bekam Herzklopfen bei diesem
selbstgesetzten Tempo. Es war verrückt, sich auf diese Art
zu überfordern. Dafür fehlte ihr wirklich die Kondition.
Doch sie gab nicht nach, versuchte, unter Aufwendung
aller körperlichen Energie ihren Gedanken zu entfliehen.
Endlich merkte sie, daß sie allmählich ruhiger wurde,
drehte sich auf den Rücken und verlegte sich aufs
Wassertreten, wobei sie mit den Armen weitausholende,
gleichmäßige Kreise beschrieb.
Die Briefe. Der eine, den sie besaßen, der andere, den
jemand gestohlen hatte, die weiteren, die sie vielleicht
noch in der ungeöffneten Post finden mochten.
Diejenigen, die Leila vermutlich gesehen und vernichtet
hatte. Warum hat Leila mir nichts darüber gesagt? Warum
hat sie mich ausgeschlossen? Sie hat mich doch immer als
eine Art Schall- und Stoßdämpfer benutzt. Und sie hat
immer gesagt, ich könnte sie davor bewahren, Kritiken zu
ernst zu nehmen.
Leila hatte ihr nichts erzählt, weil sie überzeugt davon
war, daß Ted sich für eine andere interessierte, daß sie
daran nichts ändern konnte. Aber Sammy hatte recht.
Wenn Ted sich für eine andere interessierte, hatte er kein
Motiv, Leila zu töten.
Aber ich habe mich in dem Zeitpunkt des
Telefongesprächs nicht geirrt …
Wenn nun Leila hinuntergestürzt war, ohne daß er sie
halten konnte, und er dann einen solchen Schock erlitten
hatte, daß sein Gedächtnis aussetzte? Wenn nun diese
Briefe sie in den Selbstmord getrieben hatten? Ich muß
den Absender ausfindig machen, dachte Elizabeth.
Höchste Zeit zurückzugehen. Sie war todmüde und
endlich etwas ruhiger geworden. Am nächsten Morgen
Weitere Kostenlose Bücher