Der müde Bulle
soll sich einen Anwalt nehmen. Ich habe keine Lust mehr, mich noch länger mit ihm herumzuärgern.«
Ich ließ sie noch eine Weile schimpfen, bis ich sie schließlich unterbrach: »Jetzt hören Sie mal, Miß Tilden. Sie werden jetzt vorbeikommen und Ihren Bruder abholen, und dann kommen Sie noch einmal am Dienstag mit ihm hierher, um mit dem Untersuchungsrichter zu sprechen. Vielleicht können die Ihnen einen Rat geben, was Sie mit ihm machen sollen.«
»Und was ist, wenn ich ihn nicht abholen komme?«
»Dann müßte ich ihn vors Jugendgericht bringen, und das möchten Sie doch wohl nicht. Und Ihr Bruder wäre davon sicher auch nicht gerade begeistert.«
»Na ja, ich will meinem Bruder natürlich nicht schaden. Aber vielleicht könnten Sie mir irgendwie helfen. Wissen Sie, ich bin einfach selbst noch viel zu jung, um mir so einen jungen Burschen aufhalsen zu lassen. Ich kann doch keinen Jungen in seinem Alter erziehen. Wie soll ich das denn schaffen, bei meinem miesen Job? Schließlich kann niemand von mir erwarten, daß ich mich voll um meinen kleinen Bruder kümmere. Nicht einmal Sozialhilfe haben sie mir bewilligt. Das ist doch echt das letzte. Wenn ich so ein verdammter Nigger wäre, dann würden sie zahlen. Aber so rücken die keinen Cent raus. Vielleicht wäre es ja doch das Beste, wenn Sie ihn vors Jugendgericht brächten. Vielleicht wäre das auch für ihn das Beste. Letztlich geht es mir ja nur um ihn, wissen Sie. Oder vielleicht könnten Sie ihn in irgendein Heim einweisen, damit sich jemand um ihn kümmert und dafür sorgt, daß er regelmäßig zur Schule geht.«
»Jetzt hören Sie aber mal. Ich habe Ihren Bruder nur verhaftet, und es ist nur meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß er nach Hause gebracht wird. Wenn Sie wollen, können Sie das alles am Dienstagvormittag mit dem Jugendrichter besprechen, aber jetzt sehen Sie zu, daß Sie in einer Viertelstunde hier erscheinen und Ihren Bruder nach Hause bringen. Haben Sie mich verstanden?«
»Ist ja schon gut, ist ja schon gut«, lenkte sie ein. »Kann ich auch einen Verwandten vorbeischicken?«
»Wer ist das?«
»Tommys Onkel, Jake Pauley. Er wird Tommy dann nach Hause bringen.«
»Ja, das geht auch.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, sah mich der Junge mit einem schiefen Lächeln an. »Na, wie finden Sie Big Blue?«
»Ganz nett«, antwortete ich und machte mich wieder an meinen Formularen zu schaffen. Es tat mir leid, daß der Junge dieses Gespräch mithören hatte müssen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß sie sich dermaßen anstellen würde.
»Sie will mich loswerden, oder nicht?«
»Sie wird deinen Onkel vorbeischicken, damit er dich nach Hause bringt.«
»Ich habe doch gar keinen Onkel.«
»Er heißt jedenfalls Jake Pauley.«
»Daß ich nicht lache! Der gute, alte Jake! Das ist vielleicht ein sauberer Onkel.«
»Wer ist dieser Jake? Einer von Big Blues Freunden?«
»Klar, bei dem haben wir gewohnt, bevor wir zu Slim gezogen sind. Aber ich glaube, daß sie jetzt wieder zu Jake zurückgeht. Slim wird ganz schön ausflippen, wenn er das erfährt.«
»Ihr zieht wohl öfter um, wie?«
»Das kann man wohl sagen. Ich war schon auf sieben verschiedenen Schulen. Sieben! Aber solche Geschichten bekommen Sie ja vermutlich dauernd zu hören.«
»Ja, das kann man wohl sagen.«
Ich versuchte mich wieder auf meinen Bericht zu konzentrieren, und er ließ mich auch eine Weile schreiben. Kurz bevor ich damit fertig wurde, unterbrach er mich jedoch noch einmal. »Ja, zu so einem Dodger-Spiel würde ich schon gern gehen. Ich würde sogar die Eintrittskarte und den Bus und alles zahlen, wenn nur jemand mitkommen würde, der von Baseball ein wenig Ahnung hat.«
Nun bekam ich zu meinen Magenschmerzen auch noch Kopfweh, so daß ich mich mit meinem Bericht zurücklehnte, um ihn mir genauer anzusehen und mir alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Es bestand kein Zweifel – die Götter hatten sich wieder einmal gegen die Menschen verschworen. Sie hatten mir diesen Jungen geschickt. An meinem letzten Tag. Zwei Tage, nachdem Cassie mir von dieser Idee erzählt hatte, die meinen Magen jedesmal umdrehte, sobald ich nur daran dachte. Für eine Minute war ich so aufgeregt, daß ich aufstehen mußte und den Raum durchquerte, um aus dem Fenster zu schauen.
Da haben wir es, dachte ich. Ich kämpfte gegen den Impuls an, Cassie anzurufen und ihr von dem Jungen zu erzählen und seine Schwester zu verständigen, damit sie Onkel Jake nicht
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