Der multiple Roman (German Edition)
ein gewaltiger Prozess der Belebung ab.
Dieser Prozess der Belebung wird in Zukunft mit der Technik von Saul Steinbergs vergrößerten Hintergrundhunden in Verbindung gebracht werden, so wie er auch – um bei der Geschichte der Belletristik zu bleiben – mit etwas verwandt ist, das Denis Diderot in seiner Erzählung »Die beiden Freunde aus Bourbonne« beschreibt, deren zweite Hälfte eigentlich reine Literaturtheorie ist. Um eine Erzählung wahr erscheinen zu lassen, so Diderot, muss ein Autor der Oberfläche seiner Geschichte einen so großen Detailreichtum verleihen, »so einfache, so natürliche und doch so schwer vorstellbare Züge, dass ihr gezwungen seid, Euch zu sagen: Meiner Treu, das ist wahr! Dergleichen Dinge erfindet man nicht!« [24] Diderot bietet dem geistig weniger beweglichen Leser einen Vergleich mit der Malerei an:
Ein Künstler malt auf die Leinwand einen Kopf; alle Formen sind kraftvoll, groß und regelmäßig; es ist das vollkommenste, auserlesenste Ganze. Betrachte ich es, fühle ich Ehrfurcht, Bewunderung, Schrecken; ich suche das Modell in der Natur und finde es nicht; im Vergleich hierzu ist alles schwach, klein und armselig. Es ist ein idealer Kopf, das fühle ich; das sage ich mir … Aber der Künstler lasse mich eine kleine Narbe an der Stirn dieses Kopfes wahrnehmen, eine Warze an einer seiner Schläfen, eine unmerkliche Spalte auf der Unterlippe, und sogleich wandelt sich der Kopf vom Ideal, das er war, zum Porträt; einige Pockenspuren im Augenwinkel oder neben der Nase, und dieses Frauengesicht ist nicht mehr das der Venus; es ist das Porträt einer meiner Nachbarinnen. [25]
1771 hatte Diderot – mit seiner blassen Narbe auf der Stirn und einer Warze an der Schläfe – die Kunst der magischen Belebung des Details entdeckt.
Beweismaterial
1
Und dann begannen sich die Zeichen auszubreiten. Die beste Beschreibung dieser Ausbreitung wurde zweihundert Jahre nach Diderot formuliert, im Dezember 1978 , als Roland Barthes den letzten Kurs begann, den er unterrichten sollte:
Die Vorbereitung des Romans
. Es war der Anfang eines halb-geheimen Projekts: Dieser avantgardistische Theoretiker, der die Romanform mit so viel Verachtung gestraft hatte, wollte jetzt, wo er in die Sechziger kam, seinen ganz eigenen Roman schreiben. Er begann, indem er seinen Studenten am Collège feierlich mitteilte, er habe beschlossen, seinen Kurs über den Roman mit einer Analyse des Haiku zu beginnen. Ich weiß, dass dies den Anschein einer verrückten Komödie hat: einen Kurs über den Roman mit dem Haiku zu beginnen. Aber es hat doch auch eine gewisse Logik. Denn in seinem Kurs wollte Barthes den Roman von seinem kleinsten Bestandteil aus aufarbeiten – und das Haiku, fand Barthes, war die reinste Form der Darstellung: die kleinstmögliche Form eines literarischen Werks.
Das Haiku war ein Satz, ein Cartoon.
Das Haiku, sagte Barthes, sei benutzt worden, um an das Wetter zu erinnern, und an das Dahineilen der Jahreszeiten: an das, was »unwiederholbar und doch intelligibel« [26] sei – die tägliche Prosa der Welt. Es lebe von
Nuancen
, und sein Stoff sei das auf zufällige Weise Konkrete – »Wörter … die konkrete Dinge als Referenten haben, grob gesagt: Objekte« – oder, um sein neues lateinisches Lieblingswort zu benutzen: »tangibilia«. [27] Hierbei handelt es sich, denke ich, wieder um eine andere Art und Weise, über Romane zu schreiben: das Erfinden einer ganz neuen Terminologie. Und Barthes war gut darin, sich neue Begriffe auszudenken. Im Jahre 1968 , dem Jahr der Revolution, hatte Barthes bekanntlich seine ganz eigene Revolution angestoßen: mit dem Begriff »Realitätseffekt«. [28] Dieser Begriff war insofern revolutionär, als er die wirkliche Funktion von Detaildarstellungen in der Prosa aufdeckte. Details, sagte Barthes, die »angeblich unmittelbar etwas Wirkliches darstellten«, taten in Wirklichkeit nichts anderes, so wagte er zu behaupten, als »die Kategorie des ›Wirklichen‹ zu kennzeichnen …« [29] Seine Behauptungen der 1960 er Jahre waren der geballte intellektuelle Sarkasmus. Und jetzt, fast zehn Jahre später, änderte er seine Definition dieses Effekts klammheimlich und grundlegend. »Ich verstehe unter ›Wirklichkeitseffekt‹«, erklärte er seinem Kurs nun, »das Verlöschen der Sprache zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück, verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt übrigbleibt.« [30]
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