Der multiple Roman (German Edition)
Plötzlich war sein Ziel nicht mehr der Ausdruck eines Codes, sondern von Wahrheit.
Und um zu erklären, wie genau diese konkreten Details in Prosa wirken sollten, wandte sich Barthes der Fotografie zu, als vergleichende Instanz – eine Art Ausblick auf sein letztes Buch,
La chambre claire
(
Die helle Kammer
), das er zwei Monate später schreiben sollte. Hier im Hörsaal testete er zum ersten Mal sein Konzept vom Unterschied zwischen Foto und Satz: Eine Fotografie gebe die Gewissheit, dass etwas
»gewesen ist«
– während ein Haiku, als Form von Sprache, dagegen »
den Eindruck
vermittelt (nicht die Gewissheit: Urdoxa,
Noema
der Fotografie), daß das, was es sagt, stattgefunden hat …« [31] In beiden Fällen, dem der Fotografie sowie dem des Haiku, seien es erst Details, die den Leser überzeugen, dass etwas geschehen ist. Details hätten ansonsten keine Bedeutung – denn die Bestimmung des Haiku, schreibt Barthes, »liegt schließlich darin, jede Metasprache zum Schweigen zu bringen; darin liegt die Autorität des Haiku«. [32] Den absoluten Kern jeder sprachlichen Struktur bilde eine Form, welche die Individualisierung fördere: der Knotenpunkt eines glänzenden Netzwerks. Und dann geschah etwas Seltsames in Barthes’ Seminar. Die wichtigsten Beispiele hierfür, sagt er, seien zwei Momente aus zwei gigantischen Romanen. Aber bei diesen handelt es sich eigentlich gar nicht um Details. Sie sind viel grandioser: Die von Barthes ausgewählten Beispiele sind nämlich der Tod von Bolkonski in
Krieg und Frieden
und der Tod der Großmutter in Prousts
À la recherche
. Beide repräsentierten Augenblicke der Wahrheit, Triumphe des Wortwörtlichen: das »Auftauchen des Uninterpretierbaren, des letzten Grades des Sinns, dessen, wonach
es nichts mehr zu sagen gibt
…« [33]
Und hier, denke ich, erreicht Barthes einen Punkt, wo sich ein ganz neues Konzept des Zeichens abzubilden beginnt, wo die Zeichen damit anfangen, sich auszubreiten: in dieser Idee des Moments. [9] Das war sein wirklicher Beitrag zur Romankunst: eine Entdeckung, die er als Kritiker machte, nicht als der Schriftsteller, der er nie sein würde. Denn etwas über ein Jahr nach seiner Vorlesung über Zeichen, am 26 . März 1980 , starb Barthes. [10]
2
Bevor er starb, hatte Barthes versucht, einen Roman zu schreiben:
Vita Nova
. Aber eingebunden in die manischen Abläufe seines Berufslebens, hatte er stattdessen einen Kurs über
Die Vorbereitung des Romans
gegeben; er hatte eine Vorlesung über Proust gehalten; und er hatte ein Buch über Fotografie geschrieben:
Die helle Kammer
. Aber trotzdem: Mir kommt es so vor, als hätten sich all diese Ablenkungen letztendlich nur um sein geliebtes, unvollendetes Projekt gedreht. (Der ungeschriebene Roman! Was für eine Schmonzette!) Und in Barthes’ Spätwerk lässt sich ein Muster erkennen, das durch seine Annäherungen an diesen zuletzt ungeschrieben gebliebenen Roman entstand und das seine letzte Entdeckung ist.
In
Die helle Kammer
schreibt Barthes, dass sich eine Fotografie »nie von ihrem Bezugsobjekt (
Referenten
; von dem, was sie darstellt) unterscheiden« lasse: Genau wie der »Augenblick der Wahrheit«, den er in Romanen ausmachte, oder die Details im Haiku, war die Fotografie eine Form von absoluter Direktheit. [34] Denn die Essenz eines Fotos, schrieb Barthes, sei dies: Es lasse sich »in der Fotografie nicht leugnen, daß
die Sache dagewesen ist
. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit.« [35] Und weil dies stimmt, ist jede Fotografie auch ein Denkmal an sich: Jedes Fotoalbum wird einmal zwangsläufig ein Mausoleum werden. Denn »indem sie … dieses Reale in die Vergangenheit verlagert (›Es-ist-so-gewesen‹), erweckt sie den Eindruck, es sei bereits tot.« [36]
An einer früheren Stelle in diesem Buch hatte Barthes behauptet, dass es bei einer Fotografie um zwei Aspekte gehe. Da war das
studium
: ein generelles kulturelles Interesse an den Einzelheiten des jeweiligen Zeitalters. Aber jede wichtige Fotografie habe auch ein
punctum
. Dieses »schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren«. [37] Ein anderer Begriff für diese Einzelheiten ist »Realitätseffekt«: es ist diese Art von Detail – sei es als
punctum
eines Fotos oder als Realitätseffekt eines Romans – die den Leser, oder den Betrachter, überzeugt, dass ein Zeichen nicht nur treffend ist, sondern auch wahr. Und dieses Netzwerk von Definitionen und
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