Der multiple Roman (German Edition)
nicht, ich weiß nur, dass ich begann dich zu lieben, ohne zu wissen, warum, und nun merke ich, dass es unmöglich ist, dass dieses Gefühl je zurückkehren wird.« [41] Was dieser Geschichte etwas Magisches verleiht, ist, dass später Mademoiselle de la Chaux das gleiche Argument benutzen wird, nur umgekehrt, um einem anderen Mann, der sie liebt, zu erklären, warum sie ihn nicht lieben kann. Das Gefühl will einfach nicht kommen, sagt sie; es steht ihr nicht zur Verfügung.
Mit diesem Augenblick hilfloser, unbemerkter Wiederholung löst sich Diderots Erzählung auf und wird zu einer Wahrheit.
5
Eine Erzählung kann zum Beweismaterial für etwas werden, das nie mit logischen Mitteln bewiesen werden könnte. Eine Erzählung kann eine ganz neue Art von Realität erfinden. Und wenn man lieber einen anderen Begriff für diese Magie der Anordnung benutzen möchte, wenn man so altmodische Wörter wie das Lebendige und das Tote nicht mag, dann lässt sich meiner Meinung nach auch hierfür eine Lösung finden. Und zwar indem man sagt, dass Literatur aus Träumen besteht.
In seinen Notizbüchern hielt Ludwig Wittgenstein einst eine Abfolge von Beobachtungen fest, die sich mit der Schauspielkunst beschäftigten. Insbesondere schrieb er über Shakespeare. Und wirklich drehen sich diese Notizen um das seltsame, traumähnliche Wesen der sprachlichen Zeichen.
Shakespeare & der Traum. Ein Traum ist ganz unrichtig absurd, zusammengesetzt, & doch ganz richtig: er macht in
dieser
seltsamen Zusammensetzung einen Eindruck. Warum? Ich weiß es nicht. Und wenn Shakespeare groß ist, wie von ihm ausgesagt wird, dann muß man von ihm sagen können: Es ist alles falsch,
stimmt nicht
– & ist doch ganz richtig nach einem eigenen Gesetz. [42]
Ein Zeichen kann falsch sein und gleichzeitig absolut wahr. [11] Das war Wittgensteins erste Intuition. Um dann die genaue Untersuchung über die Frage von Leben und Tod anzuschließen:
Angenommen wir stellen uns die folgende Frage: Werden Menschen in Tragödien umgebracht oder nicht? Eine mögliche Antwort ist: In manchen Tragödien werden manche Menschen umgebracht und manche nicht. Eine andere Antwort ist: ›Auf der Bühne werden Menschen nicht
wirklich
umgebracht, es wird nur so getan, als würden sie umgebracht und stürben.‹ Aber der Gebrauch des Ausdrucks so tun als ob ist an dieser Stelle mehrdeutig, denn es kann in dem Sinne gebraucht werden, wie Edgar so tut, als habe er Gloucester zu der Klippe geführt.
Wittgensteins Schlussfolgerung ist von einem majestätischen Pragmatismus:
Wir wollen also sagen, dass Ausdrücke, wie »wirklich«, »so tun als ob«, »sterben« etc. auf besondere Weise benutzt werden, wenn man über ein Theaterstück redet und auf andere Weise
im normalen Leben
. Oder: die Kriterien für den Tod eines Menschen in einem Theaterstück sind nicht dieselben wie die für seinen Tod
in der Wirklichkeit
. Aber ist es
gerechtfertigt
zu sagen, dass Lear am Ende des Stückes stirbt. Warum nicht. [43]
Flugzeug
1
Und ich denke, dass hier – im Kontext des Magischen, der Beweismaterialien und der Träume – das beginnt, was international und länderunabhängig ist. Erst hier wird die Möglichkeit der Vervielfältigung wirklich. Denn das grundlegende Argument dagegen, dass ein Roman in anderen Sprachen reproduziert werden kann, ist die Vorstellung, in seinen Sätzen seien Form und Inhalt identisch. Aber ich denke nicht, dass Form und Inhalt wirklich hilfreiche Begriffe sind, um zu beschreiben, was Wörter in einem Roman sind und wie sie bedeuten, was sie bedeuten. Die Wahrheit ist viel mobiler.
Aber das muss erst noch anhand von Musterbeispielen bewiesen werden. Diese Theorie muss sich auch mit jenen literarischen Experimenten vertragen, die reine Stilabenteuer zu sein scheinen. Denn, ich weiß, der herkömmlichen Ansicht nach sind Stilabenteuer monoglott: Sie existieren nur in einer sprachlichen Inkarnation – wie die auf manische Weise französischen Übungen von Raymond Queneau. Aber: Was, wenn man beweisen könnte, dass diese Übungen genauso in einer anderen Sprache existieren können? Was, wenn Queneaus Pariser Experimente in, sagen wir mal, London wiederholt werden könnten? Denn selbstverständlich existieren sie in London! Und dass es sie auch auf Englisch gibt, ist dem Talent von Queneaus englischer Übersetzerin Barbara Wright zu verdanken.
2
Barbara Wright übersetzte Queneaus
Stilübungen
im Sommer 1957 aus dem Französischen ins Englische.
Weitere Kostenlose Bücher