Der multiple Roman (German Edition)
Einige Wörter musste sie nachschlagen: zum Beispiel
funambules
,
acculer
oder
canicule
. Na und? Was ist schon schlimm daran, ein Wörterbuch zu benutzen? Das ganze Ausmaß ihrer Fähigkeiten zeigt Barbara Wright erstmals in einer der ersten Abfolgen von Stilübungen, wo Queneau dem französischen Leser die ursprüngliche Geschichte in verschiedenen Zeitformen anbietet: im Passé indéfini, im Présent, im Passé simple und im Imparfait. Da die englische Sprache nicht besonders differenziert mit der Vergangenheit umgeht, setzt Barbara Wright dem Leser eine etwas andere Sequenz vor: Vergangenheit, Gegenwart, indirekte Rede und Passiv. Anders gesagt sind zwei ihrer
Übungen
überhaupt gar keine Übersetzungen: Sie sind ihre ganz eigenen Erfindungen. Und auch dort, wo Raymond Queneaus Französisch beginnt, wirklich verrückt zu werden, erfindet Barbara Wright ihr eigenes Pendant de folie. Der erste Satz von Queneaus Übung »Anglizismen« hört sich in seinem Franglais so an: »Un dai vers middai, je tèque le beusse et je sie un jeugne manne avec une grète nèque et un hatte avec une quainnde de lèsse tressés.« [44] Aber in Wrights Englench heißt die Übung jetzt »Gallicisims«, und ihr erster Satz hört sich so an: »One zhour about meedee I pree the ohtobyusse and I vee a zhern omm with a daymoorzuray neck and a shappoh with a sorrt of plaited galorng.« [45] Es ist eine freie Übersetzung, klar, aber sie ist dabei absolut präzise. Das ist kein Widerspruch, philosophisch gesehen, denke ich.
»Ich war schon immer der Auffassung, dass nichts unübersetzbar ist«, schrieb Queneau in einem Brief an Barbara Wright, »und hier sehe ich einen neuen Beweis.« [46] Denn sie hatte verstanden, dass es sich bei jedem Stil um ein System von strategischen, formverändernden Angriffen auf Sätze handelt: Und auch, wenn es ihr nicht immer möglich war, wörtlich zu übersetzen, schaffte sie es, eine Übersetzung anzufertigen, die demonstriert, wie übertragbar die Effekte eines jeden Stils sind.
3
Und das stimmt sogar im Fall des verrücktesten Experiments, das mir einfällt: James Joyces jetzt als
Finnegans Wake
bekannter Roman, den er in Paris abschloss und in der kleinen Zeitschrift
transition
unter dem Titel
Work in Progress
nach und nach veröffentlichte. Dieser Roman ist berühmt dafür, dass er in einem ganz eigenen, polyglotten Englisch geschrieben ist. Diese polyglotte Dichte entstand durch die Anwendung von Traumtechniken – Verdichtung und Verschiebung – auf die Sprache selbst. Genauso, wie Traumbilder dicht und überdeterminiert sind, wollte Joyce, dass das Englisch in
Finnegans Wake
unberechenbar, komprimiert und polyglott ist. So dass sich der Leser des ersten Teils zu seiner Verblüffung und Frustration mit einem Stil konfrontiert sah, der unter anderem Wortspiele in mehr als einer Sprache beinhaltete: »What clashes here of wills gen wonts, ostrygods gagging fishygods!« [47]
Vielleicht hatte Joyce mit
Finnegans Wake
eine stilistische Dichte erreicht, die eine Übertragung in andere Sprachen nicht überleben kann – ein Reich der reinsten Poesie, einen Stil ohne Sinn. Ja, vielleicht hatte Joyce hier Form in Inhalt verwandelt. So pries jedenfalls einer von Joyces besten Freunden an, was dieser mit seinem großartigen, verrückten Stil erreicht hatte. In einer Aufsatzsammlung –
Our Exagmination Round His Factification for Incamination of Work in Progress
, die 1929 veröffentlicht wurde, zehn Jahre bevor
Finnegans Wake
schließlich herauskam – versuchte Samuel Beckett, der sowohl fließend Französisch als auch Englisch sprach, zu zeigen, dass
Work in Progress
, entgegen der gängigen Meinung, überhaupt nicht schwer zu lesen war. Beckett vermutete, dass den bourgeoisen, wenig intelligenten Leser vermutlich vor allem Joyces Innovation der Doppelbeziehungen zwischen Sprache und Realität, und zwischen Form und Inhalt verwirrt hatte. Normalerweise waren, Beckett zufolge, in konventionellen Romanen Form und Inhalt unterschiedliche Dinge. Anders war dies in Joyces
Finnegans Wake
, argumentierte Beckett mit vor Kursivschrift strauchelnder Prosa: »Hier
ist
Form der Inhalt, der Inhalt
ist
die Form.« Und so kam er zu seinem eingängigen Schluss: »Er schreibt nicht
über
etwas;
sein Schreiben ist dieses etwas selbst
.« [48] Aber während Becketts aggressive Schlussfolgerung einen gewissen Charme hat, kann sie trotzdem nicht wahr sein: Denn während viele verschiedene Beziehungen zwischen Inhalt und
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