Der multiple Roman (German Edition)
englische Bücher nach Paris zu schicken, darunter auch »die 6 Bd. des Shandy«. [268] Diese Bände wollte Sterne Diderot schenken. Im September 1762 beschrieb Diderot dann in einem Brief an seine Freundin Sophie Volland
Tristram Shandy
als das »närrischste, weiseste, fröhlichste aller Bücher«. [269] Dieser Roman, fand Diderot, habe den Roman als Kunstform neu erfunden.
3
In Milan Kunderas Essay »Einführung zu einer Variation« – in dem er seine eigene dramatische Adaptation von Diderots Roman
Jacques der Fatalist
vorstellt, die 1981 in Paris veröffentlicht wurde, sechs Jahre nachdem Kundera die kommunistische Tschechoslowakei verlassen hatte – erörtert dieser die Originalität von Laurence Sternes Roman
Tristram Shandy
. Kundera zufolge liegen die »Weisheit und die Schönheit« des Romans darin, dass es sich bei ihm um einen »Spiel-Roman« handelt. In Sternes Roman, so Kundera, wird alles spielerisch in Frage gestellt. Trotzdem, fährt er fort, ist dieser Roman in der Geschichte der Romankunst bis heute verblüffend ungewöhnlich: »Niemand ist ihm gefolgt. Niemand – außer Diderot.« Und dann entwickelt Kundera seine Theorie der Originalität, die auf dieser merkwürdigen Beziehung zwischen Laurence Sterne und Denis Diderot basiert. Denn Diderot allein »war empfänglich für diesen Ruf des Neuen. Es wäre daher absurd, deswegen seine Originalität herabzusetzen. Niemand macht sie einem Rousseau, einem Laclos, einem Goethe streitig, nur weil diese (sie und die ganze Entwicklung des Romans) dem Vorbild des naiven alten Richardson viel verdankten. Die Ähnlichkeit zwischen Sterne und Diderot ist deshalb so frappierend, weil ihr gemeinsames Unterfangen in der Geschichte des Romans ganz und gar vereinzelt geblieben ist.« [270]
Damit ein Schriftsteller den Anschein von Originalität macht, hilft es, wenn er Teil einer Abfolge von Schriftstellern ist: Das ist Kunderas großartiges Argument. Es hilft, unoriginell zu sein. Nur dann wird die Originalität eines Schriftstellers anerkannt. Während der Versuch, eine neue Abfolge, eine neue Tradition zu begründen, dazu führt, dass Diderot Sterne viel mehr zu ähneln scheint, als das eigentlich der Fall ist.
Die Geschichte einer Kunst basiert immer auf einem Paradox: Ein neues Werk wird nur dann für stimmig gehalten, wenn es Teil einer Tradition ist, und trotzdem hat es im Kontext dieser Tradition nur Wert, wenn es etwas Neues macht. Dies bedeutet, dass es sich bei einer Kunstform um die direkte Konfrontation mit einem Problem handelt, das nicht nur ein Problem in der Kunst ist, sondern auch im Leben: Worin liegt der Unterschied zwischen einer Wiederholung und einer Abwandlung? Ab welchem Punkt wird eine Imitation zum Original?
Bekanntermaßen bewunderte Nietzsche den fließenden Stil Sternes, »bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt wird, so dass sie das Eine und zugleich das Andere bedeutet«. [271] Diese unendliche Melodie bedeutet, dass alles doppelt vorhanden ist. Doch am meisten fasziniert mich, dass sich Nietzsche sofort auch Diderot zuwendet. Nietzsche ist der Philosoph des Einfachen und des Viefältigen: »Seltsam und belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sternes gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig – und das eben ist echt Sternescher Überhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodiert? – man kann es nicht vollkommen herausbekommen – und vielleicht hat gerade dieses sein Autor gewollt.« [272]
Eine doppeldeutige Hommage an die Doppeldeutigkeit: Das ist der Stil von Denis Diderots Roman
Jacques der Fatalist
.
Da Jacques, und somit auch
Jacques
, dieselbe Entfernung zurücklegt wie Sterne, aber über einen längeren Zeitraum hinweg, kann man Diderots Ansatz als Überarbeitung betrachten, in der Sternes Tempo gedrosselt wird. Und trotzdem ist auch das Gegenteil wahr. Eine Besonderheit von Sternes Roman
Tristram Shandy
ist gerade die Langsamkeit seiner Erzählweise, die durch seine verstopfte und zerrüttete Oberflächenstruktur entsteht. Aber für seine Fassung hat Diderot vielleicht noch die schnellste all jener stockenden Erzählweisen gewählt, die in
Tristram Shandy
vorkommen. Da hier nicht Tristram erzählt, ist die Geschichte des verliebten Trims ein zusätzlicher Cartoon, der in Tristram Shandys Roman eingefügt wurde, ein sehnsuchtsvoller
Weitere Kostenlose Bücher