Der multiple Roman (German Edition)
Er muss den Titel seiner Geschichte in ein und demselben Kapitel ganze fünfmal nennen, weil er jedes Mal wieder von Onkel Tobys Ablenkungen und Fragen unterbrochen wird, bevor er weiterkommt. Endlich ist es so weit. Er kommt bis zum ersten Satz. Und dann wird er schon wieder unterbrochen.
Da es nun an einem schönen Sommerabend
von ohngefähr
so ausfiel, daß der König von Böhmen mit seiner Königin und seinen Höflingen spazierenging – Recht so! hier ist die Wendung
von ohngefähr
wohl am Platze, Trim, rief mein Onkel Toby; denn der König von Böhmen und seine Königin hätten können spazierengehen oder es bleiben lassen; – ’s war dies eine Denkbarkeit, die eintreten konnte oder nicht, just wie’s der Zufall wollte.
König William war der Ansicht, mit Verlaub Euer Gnaden, sprach Trim, daß uns alles in dieser Welt schon im voraus bestimmet sei; dergestalt, daß er zu seinen Soldaten oftermals zu sagen pflog: »jede Kugel habe ihr Quartierbillet«. Er war ein großer Mann, sagte mein Onkel Toby. [264]
Der Vorname des Korporals ist James. Das erwähne ich nur, weil ein paar Jahre später, auf der anderen Seite des Ärmelkanals, in Frankreich, eine Geschichte über einen Mann namens Jacques in Umlauf gebracht wurde, der sich mit seinem Herrn unterhielt:
Jacques
. Mein Hauptmann fügte für gewöhnlich hinzu, jede aus einem Gewehr abgeschossene Kugel habe ihren Quartierschein.
Der Herr
. Und damit hatte er recht … [265]
In England bemüht sich Trim derweil, mit seiner Geschichte voranzukommen. Er behauptet: »Wäre dieser eine Schuß nicht gewesen, so hätt’ ich mich, mit Verlaub Euer Gnaden, auch nie verliebt –.« [266] Aber diese letzte Bemerkung ist fatal. Denn Onkel Toby würde eine Trim betreffende Liebesgeschichte immer sofort einer Geschichte über den König von Böhmen vorziehen. Und deshalb muss Trim seine Geschichte über den König von Böhmen und seine sieben Schlösser schließlich ganz aufgegeben. Stattdessen erzählt er die Geschichte seines Liebeslebens, ohne größere Unterbrechungen oder Abschweifungen, bis sie vier Kapitel später endet. Währenddessen in Frankreich:
Jacques und sein Herr unterhalten sich
Jacques
. […] Ich glaube, ohne jenen Schuss würde ich mich nie im Leben weder verliebt haben noch hinken.
Der Herr
. Du bist also verliebt gewesen?
Jacques
. Und ob ich es gewesen bin!
Der Herr
. Und zwar eines Schusses wegen?
Jacques
. Eines Schusses wegen.
Der Herr
. Davon hast du mir nie ein Wort gesagt.
Jacques
. Das glaub ich wohl.
Der Herr
. Und warum nicht?
Jacques
. Weil es weder früher noch später hatte gesagt werden können.
Der Herr
. Und jetzt ist der Augenblick gekommen, da ich von dieser Liebesgeschichte erfahren kann?
Jacques
. Wer weiß.
Der Herr
. Was auch geschehen möge, fang nur an … [267]
Und so beginnt Denis Diderots Roman
Jacques le fataliste et son maître
(
Jacques der Fatalist und sein Herr
)
– genau an der Stelle, wo auch das neunzehnte Kapitel des achten Bandes von Laurence Sternes Roman
Tristram Shandy
begonnen hatte. Aber danach zieht sich der Roman hin: Denn er erzählt die Geschichte von Jacques’ einziger Liebe: oder genauer gesagt, er erzählt die Geschichte davon, wie Jacques versucht, die Geschichte von seiner einzigen Liebe zu erzählen. Und er endet da, wo das zweiundzwanzigste Kapitel des achten Bandes von
Tristram Shandy
endet.
Denis Diderot erweiterte vier Kapitel von Laurence Sterne zu einem Roman.
2
1762 kam Laurence Sterne, der bis dahin sechs Bände seines Romans
Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
veröffentlicht hatte, nach Paris, um sich zu amüsieren und um die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Aber er kam nicht dazu, sehr viele Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Stattdessen machte er als neueste literarische Sensation aus England Furore. In einem Brief an seinen Freund David Garrick, den berühmten Schauspieler, schrieb Sterne, er habe bisher Einladungen erhalten von Michel-Étienne Lepeletier, dem Comte de Saint-Fargeau; dem Baron D’Holbach; dem Grafen von Limburg-Styrum und von Claude de Thiard, Comte de Bissy. Der Duc d’Orléans gab eine Skizze von Sterne für seine Sammlung von Memorabilia bedeutender ausländischer Besucher in Frankreich [36] in Auftrag. Aber Sternes wichtigstes Treffen in Paris, das, worum es mir hier eigentlich geht, war jenes mit Denis Diderot. Von Paris aus schrieb Sterne seinem Verleger in London, Thomas Becket, und bat ihn darum, einige
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