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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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diesem System der scheinbaren Freiheit und der völligen Hemmung. Und die allergrößte Verspieltheit liegt in dieser Miniaturdarstellung des freien Willens: dieser Anthologie der Schlüsse.
    Dem dritten Schluss zufolge wird Jacques von Räubern aus dem Kerker befreit, zieht mit ihnen durch die Lande und erkennt eines Tages in einem der Schlösser, das sie hatten plündern wollen, »die Wohnstatt seines Wohltäters und seiner Geliebten«. Er bewahrt das Schloss vor der Plünderung, und alle leben fortan glücklich und zufrieden – »denn so stand es da droben geschrieben«. [279]
    Hier ist ganz offensichtlich eine gewisse Ironie im Spiel. Nichts steht da droben geschrieben. Charakteristisch für diese Erzählung über eine Person, die an absolute Ordnung, an absolute Vorherbestimmung glaubt, sind Blödeleien, multiple Schlüsse, Unterbrechungen, unfertige Erzählstränge; wie
Tristram Shandy
ist dieser Roman ein wilder Tanz der Launen. Aber eine zweite Ironie, jene, an der ich am meisten interessiert bin, geht sogar noch einen Schritt weiter. Alles ist schon deswegen vorherbestimmt, weil Diderot nichts weiter macht, als eine Geschichte aus einem Buch abzuschreiben, das von Laurence Sterne bereits veröffentlicht wurde. Alles ist improvisiert, weil Diderot, der Erzähler, die ganze Zeit über ganz unverblümt Sternes Text benutzt und verändert. Er demonstriert ständig seine neugewonnene Freiheit.
    5
    Und trotzdem: auch diese Freiheit ist eine Erfindung von Laurence Sterne: Diderots Spiel mit den Schlüssen ist eine Adaptation von Sternes Spiel mit den Kapiteln.
    Am Anfang des vierten Bandes von
Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman
trifft der Leser Tristrams Vater Walter in niedergeschlagener Stimmung an – auf dem Bett liegend, einen Arm zur Seite ausgestreckt, die Hand mit häuslich-realistischem Gestus auf dem Henkel des Nachttopfes. So erholt er sich von der Nachricht, dass der Arzt dadurch, dass er eine Zange verwendete, um Tristram auf die Welt zu bringen, die Nase des Kindes platt gedrückt habe. Denn es ist eine von Walters komischen, aber ernsthaften Überzeugungen, dass der Charakter eines Mannes vom Adel seiner Nase abhängt: Eine zerquetschte Nase ist absolut nutzlos. Und deshalb hält er seinem Bruder Toby von seinem Bett aus einen Vortrag darüber, wie es ist, »wenn man den Katalog all der durchkreuzten Rechnungen und kläglichen
Items
überfliegt, mit denen das Herz des Menschen überladen ist« [280] . Konfrontiert mit den Leiden dieser Welt und mit der Tatsache, dass sein Sohn das Einzige nicht besitzt – nämlich eine edle Nase –, was die bösen Kräfte ausgleichen könnte, beschließt Walter, dass nun dringende Maßnahmen erforderlich seien: Als er beginnt, die Treppe hinunterzugehen, verkündigt er seinem Bruder Toby, dass er seinen Sohn Trismegistus nennen müsse – nach Hermes Trismegistus, dem großen Alchemisten und Philosophen. Und als er weiter die Treppe hinuntergeht: »Was für ein Kapitel von Zufällen, sagte mein Vater und drehte sich auf dem ersten Treppenabsatz um, als er mit meinem Onkel
Toby
hinabsteigen wollte – was für ein langes Kapitel von Zufällen schlagen doch die Ereignisse dieser Welt vor uns auf!« [281]
    Aber machen wir bei dem Konzept des Kapitels halt.
    Vor Laurence Sterne handelte es sich bei der Einteilung in Kapitel um eine Methode, mit der eine Erzählung in ihre erzählerischen Einheiten aufgeteilt werden konnte. Sie bildeten so Ereigniseinheiten, wie zum Beispiel, wenn ein Mann einen Jungen davor rettet, von seinem Herren verprügelt zu werden. Solch ein Kapitel hat eine vernünftige Länge. Folgendes stellt im Gegensatz dazu den gesamten Inhalt des fünften Kapitels des vierten Bandes von
Tristram Shandy
dar:
    Ist das wohl der rechte Zeitpunkt, sprach mein Vater bei sich, über PENSIONEN und GRENADIERE zu reden? [282]
    Dieses aus einem Satz bestehende Kapitel – Walter sitzt immer noch auf seinem Bett und ist noch nicht die Treppe hinuntergegangen – ist ganz offensichtlich nicht die Beschreibung eines wichtigen Ereignisses. Es ist nur ein Moment sinnlosen Grübelns.
    Vielleich kann ich es so ausdrücken. Einerseits scheint Tristram die Kapitel ganz beliebig zu verschieben, weil er auf diese Weise dem treu sein kann, was er und sein Schöpfer, Laurence Sterne, für das wirkliche Leben halten, etwas, das dem Zufall unterworfen, punktförmig und desaströs ist. Aber es steckt noch ein anderes Prinzip hinter diesen verrückten

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