Der Musentempel
genaugenommen ein wenig argwöhnisch. Irgend etwas schien zu fehlen. Dann fiel mir auf, daß Iphikrates von Chios nicht da war. Ich wandte mich an Amphitryon. »Wo steckt der alte Iphikrates? Er verpaßt ein gutes Essen und hatte möglicherweise ein bißchen Leben in die Veranstaltung bringen können.«
Der Bibliothekar verzog leicht gequält das Gesicht. »Heute nachmittag war er noch in seinem Arbeitszimmer. Vielleicht sollte ich jemanden zu ihm schicken, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.« Er rief einen Sklaven herbei und sandte ihn nach Iphikrates von Chios aus. Der alte Herr konnte ja schlecht offen zugeben, daß er hocherfreut war über Iphikrates' Abwesenheit.
Ich wußte, daß das Gespräch nach dem Essen ausschließlich aus gelehrten Debatten bestehen würde, die ich unter allen Umständen vermeiden wollte. Wenn es mir nicht gelang, mich davonzustehlen, konnte ich nur noch auf Streit und gegenseitige Verunglimpfungen hoffen, die Iphikrates, das wußte ich, im Überfluß hätte beitragen können. Nachdem der Tisch abgedeckt war, erhob sich ein alter Herr mit weißem Bart.
»Eure Hoheit, verehrte Gäste, ich bin Theophrastos von Rhodos, Dekan der Philosophischen Fakultät. Man hat mich gebeten, die heutige Diskussion zu leiten. Eure freundliche Genehmigung voraussetzend, habe ich mich für ein Thema entschieden, das der skeptische Philosoph Pyrrhon von Elis erstmals auf den Begriff gebracht hat: acatalepsia. Das heißt, die Unmöglichkeit, die Dinge ihrem wahren Wesen nach zu erkennen.«
Das überstieg meine schlimmsten Befürchtungen. Der Sklave kam zurück und flüsterte Amphitryon hektisch etwas ins Ohr, worauf sich ein Ausdruck großer Bestürzung über das Gesicht des Bibliothekars legte. Er stand hastig auf.
»Ich fürchte, ich muß die Feierlichkeiten des Abends unterbrechen« , sagte er. »Allem Anschein nach hat es eine Art Unfall gegeben. Iphikrates ist etwas zugestoßen, und ich muß nach sehen, was los ist.« Ich drehte mich um und schnippte mit den Fingern. »Meine Sandalen.« Hermes streifte sie mir über die Füße.
»Mein Herr«, sagte Amphitryon, »es ist unnötig, daß du...«
»Unsinn«, sagte ich. »Wenn es ein Problem gibt, möchte ich in jeder nur erdenklichen Weise behilflich sein.« Ich suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, hier raus zukommen.
»Also gut. Geschätzter Theophrastus, wenn du bitte fortfahren möchtest.«
Während wir den Speisesaal verließen, leierte der alte Junge in unserem Rücken weiter. Bei Nacht war das Museion eigenartig dunkel und still, die kleine Schar von Sklaven hatte sich in ihre Quartiere zurück gezogen, und nur ein einzelner Junge war geblieben, um Lampenöl nach zu gießen und die Dochte zu beschneiden.
»Was ist denn dem Anschein nach passiert?« fragte ich den Sklaven, der ausgesandt worden war, Iphikrates zu finden.
»Das solltest du dir besser selbst ansehen, Herr«, sagte er, nervös schwitzend. Sklaven benehmen sich häufig so, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Sie wissen, daß man aller Wahrscheinlichkeit nach ihnen die Schuld geben wird. Wir überquerten den Hof, wo ich am Tage zuvor beobachtet hatte, wie die Arbeiter das Modell von Iphikrates' Schleuse errichtet hatten. Im blassen Licht des Mondes wirkte er seltsam irreal.
Der Sklave blieb vor dem Arbeitszimmer stehen, in dem wir uns die Zeichnungen angesehen hatten. »Er ist da drin.«
Wir gingen hinein. Sechs Lampen sorgten für vernünftige Beleuchtung; es war jedenfalls hell genug, um zu erkennen, daß Iphikrates in der Mitte des Raumes rücklings auf dem Boden lag, tot wie Hannibal. Eine klaffende Wunde teilte seine hohe Stirn vom Nasenrücken bis zum Haaransatz. Der Raum war verwüstet, überall lagen Papiere verstreut, Schränke waren aufgebrochen und ihr Inhalt auf den Boden verteilt.
»Beim Zeus!« rief Amphitryon, seine philosophische Fassung etwas verlierend. »Was ist denn hier passiert?«
»Zunächst einmal«, sagte ich, »hat es keinen Unfall gegeben.
Unser Freund Iphikrates ist äußerst gründlich ermordet worden.«
»Ermordet! Aber warum?«
»Na ja, er war ein eher scharfzüngiger Vertreter seiner Zunft«, bemerkte ich.
»Philosophen debattieren zwar eine Menge«, sagte Amphitryon steif, »aber sie lösen ihre Streitigkeiten in den seltensten Fällen mit Gewalt.«
Ich wandte mich an den Sklaven, der noch immer vor der Tür stand. »Lauf und hol den Arzt Asklepiodes.«
»Ich fürchte, selbst für seine Künste ist es etwas zu spät«, sagte
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