Der Musikversteher
ebenso, wie sie in zahlreichen anderen unterdrückt wurden und werden. Im Bereich der Rock- und Popmusik seien stellvertretend etwa Patti Smith, Gianna Nannini, Björk und Nina Hagen genannt. Besonders anregend ist für mich das Phänomen »der Identität durch Wandel«: Es geht um Selbstinszenierungen und Personnagen.
Exemplarisch ausgewählt habe ich Madonna und (man möchte es nicht glauben) Lady Gaga, zwei »italienische« Sängerinnen/Songwriterinnen/Performerinnen aus New York. Die eine ist die erfolgreichste Künstlerin aller Zeiten, und die andere versucht derzeit, ihr diese Position streitig zu machen.
Ist Madonna Louise Ciccone, die sich Madonna nennt, eine Künstlerin, die permanent auf der Suche nach sich selbst ist? Versucht sie, durch Zusammenarbeit mit immer anderen Songwritern, mit immer neuen Produzenten, mit immer neuen Labels und Studios, so etwas wie ihr »wahres Ich« zu finden? Oder realisiert sie die unglaublich vielseitigen Facetten ihrer Persönlichkeit als bewusste Personnagen, als Rollen, die erst alle zusammen das Phänomen »Madonna« ausmachen – was also vergleichbar wäre mit einer ähnlichen Selbstinszenierung bei David Bowie? Zu nennen sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Kindfrau, Femme fatale, New Yorker Intellektuelle, politisch/religiöse Provokateurin, sportgestählter Gesundheitsapostel,Mutter, experimentelle Künstlerin, Mainstreampop-Bedienerin.
All das hätte ohne die Gattung »Musikvideo« niemals den immensen Grad von öffentlicher Aufmerksamkeit erhalten, auch nicht jene provokatorische Kraft, die ihr unter den Frauen im Popbusiness bis dahin unerhörte weltweite Bekanntheit verschaffte. Sie hat für ihre wechselnden Personnagen in der Regel die besten, die ihren Bedürfnissen adäquatesten Kreativen und Könner gefunden; das ist ein wichtiger Teil ihrer »Kreativität des Delegierens«, die in der Rock- und Popmusik ja immer wichtiger geworden ist.
Madonna war und ist hauptverantwortlich für zahlreiche Texte, besonders aber fürs Performative, fürs Kreative in der aufführenden Umsetzung des Gelieferten. Sie sorgt für Unverwechselbarkeit, für Individualisierung durch spezifische Singweisen, Artikulation, Stimmtimbres, besonders aber durch singuläre Körpersprachen, Haltungen, Gesten. Und die großen, plakativen Inszenierungen dieses Performativen mögen ihren Kunstcharakter in Frage stellen – für den überwältigen Erfolg sind sie mit verantwortlich.
Frau Ciccone ist Madonna, Frau Stefani Joanne Angelina Germanotta ist Lady Gaga. Lady Gaga – die Selbstironie im Namen scheint programmatisch zu sein. Für Madonna war Selbstironie ein Teil ihres New-York-Ichs, z. B. im verfremdet lateinamerikanischen/jiddisch-intellektuellen »I’m going banana/I’m going meschugga«. Da wird »banana« ausgeflippt, und das französische »gaga« und das jiddische »meschugge« – sie beide bezeichnen eine »anregende Verrücktheit«. Dabei hat Fräulein Germanotta so völlig normal angefangen – als hervorragend klavierspielende, rundum musikalisch ausgebildete, komponierende und textende Musikerin und Autorin, die auch ihre »klassische« Herkunft nicht leugnen konnte. Ich empfehle, sich das »Frühwerk« der Noch-nicht-Lady-Gaga einmal anzuhören und anzusehen, zum Beispiel in CAPTIVATED & ELECTRIC KISS (2005):
– http://www.youtube.com/watch?v=NM51qOpwcIM .
Auch die »neue« Lady Gaga zeigt als Soloperformerin ihre »alten« Germanotta-Qualitäten am Flügel singend ebenso wie das virtuose Beherrschen von live aktivierter Sampletechnik und Live-Elektronik in Kombination mit Gesang, so in TELEPHONE + DANCE IN THE DARK (2009):
– http://www.youtube.com/watch?v=lKVF0uoX7hY&feature=related .
Dass mit ersterem Erfolge höchstens in kleinen Clubs und bei Zirkeln von Kennern zu erzielen waren, wurde ihr drastisch klar, und ebenso drastisch änderte auch sie, sicherlich mit dem doppelten Vorbild Bowie und Madonna, ihr Personnage-Ich, und das mehrfach. Dazu gehörte auch die Fähigkeit, ihr emanzipatorisches und ihr künstlerisches Grundanliegen und ihre Intellektualität in den wechselnden Personnagen zu verbergen.
Die Hauptsignale, die von ihrem ersten wirklichen Welterfolg ausgehen, der BAD ROMANCE (2009), sind »gerader«, bassdrum-fundierter Mainstream-Dancefloor-Pop – da werden ungeniert Klischees bedient; leicht nachsingbare melodische Floskeln – aber nicht nur; meist harmonische Patterns und Turnarounds, die an vertrauten Wendungen orientiert
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