Der Musikversteher
sind – doch auch hier immer wieder Brüche; in der Soundinszenierung Vertrautes, das aber partiell am Abgrund turnt; inhaltlich und im Video eine provokante, bitterböse Geschichte einer von der Kulturindustrie »entmenschten«, zur medialen Kunstpuppe geformten Protagonistin und ihrer grausamen Rache; die Protagonistin erscheint in vielen Personnagen.
Das Besondere aber, das Befremdliche, das sogar Verstörende ist allgegenwärtig. Sexistische Klischees werden bedient und zugleich enthüllt; Frauen zähmen Frauen und werden zu Handlangern der Männerkultur. Die Konsumwelt und Hightech werden eingesetzt für diese Zähmung. Natur ist nur noch als künstliche erlebbar.
Als künstlich erlebbar ist auch Johann Sebastian Bach: Die »große« Videoversion beginnt und endet mit einem Cembalo,das »maschinell«, im Sampler verfremdet (nach a-Moll aufwärts transponiert) die h-Moll-Fuge aus dem I. Band des »Wohltemperierten Klaviers« zitiert, ein tieftrauriges Stück, das Stefani Germanotta sicherlich während ihrer »klassischen« Klavierstudien kennen gelernt hat. Und, o Wunder: Die Melodien der BAD ROMANCE sind als Variationen aus diesem Fugenthema, zumindest aus seinem Beginn, abgeleitet.
Leider ist auf den Kurz-Versionen der BAD ROMANCE dieser strukturell und inhaltlich so bedeutungsvolle Rahmen nicht zu hören.
Themen-Kopf der Bach-Fuge h-Moll, nach a-Moll transponiert: e 1 -c 1 -a-f 1 -e 1 ; identischer Tonbestand (aber rhythmisch individualisiert) in BAD ROMANCE:
Klangbeispiel (wie alle bei YouTube verfügbaren vollständigen Versionen leider ohne den Bach-Rahmen)
– http://www.youtube.com/watch?v=INUK88LMoYI .
Immerhin: 17 Sekunden des »offiziellen« Videos mit dem Bach-Beginn sind abzurufen
– http://www.youtube.com/watch?v=qRqtfjaiffA&feature=related
Lady Gaga, nach eigener Aussage in ihrer teamgeprägten Produktionsweise am Bauhaus und an Andy Warhols »Factory« geschult, sagte: »Ich arbeite mit Wiederholungen, die machen die Dinge erkennbar. Kunst ist das, worüber man lügen kann, bis alle glauben, dass man die Wahrheit sagt.« 22 Dass sie in vielen neueren Stücken die Kollateralschäden der Massentauglichkeit billigend in Kauf nimmt, muss leidenschaftslos konstatiert werden.
8. Kopf und Bauch
Temperamenten- und Affektenlehre: Was hat der Choleriker dem Phlegmatiker zu sagen?
Kurzanalysen: The Beatles HELTER SKELTER; YELLOW SUBMARINE; MICHELLE; ELEANOR RIGBY; ALL YOU NEED IS LOVE
Ich möchte nun meine musikalische Demonstration an der jahrtausendealten (und erstaunlicherweise auch interkulturellen) Lehre von den Vier Temperamenten und den damit verbundenen menschlichen Gefühlen/Affekten orientieren. Ich will zeigen, wie sie zum Beispiel auch bei den Beatles noch wirksam sind. Wichtige Voraussetzungen dafür sind in unserem Tonsystem gegeben, das ja ein sehr künstliches System ist, das uns aber als natürlich erscheint, weil es seit etwa 2500 Jahren im Gebrauch ist – in unserer Kultur mit ihren sumerischen und griechischen Wurzeln. Grundlegend dabei ist auch die Entwicklung von Dur und Moll mit den entsprechenden Gefühlszuordnungen (das entfaltet sich bei uns aber erst seit dem späten 16. Jahrhundert – in anderen Musikkulturen gibt es das ursprünglich gar nicht). Melodische und harmonische Wendungen, Rhythmen, Figurationen, die seit circa 500 Jahren üblich sind, sind bis zum heutigen Tage verständlich, auch wenn sie im »modernen Gewande« versteckt sind.
Die Auswirkungen der antiken Medizin reichen noch bis ins 20. Jahrhundert. Besonders folgenreich war der griechischrömische Arzt Galen (2. Jh. u. Z.). Man untersuchte in der »Humoralpathologie« die verschiedenen Körpersäfte, die Organe, in denen sie entstehen, ihr Mischungsverhältnis untereinander, ihr Verhältnis zu den vier Elementen und ihre Auswirkungen auf Leib und Seele. Klassifiziert werden grundsätzlich vier Typen von Menschen, in deren Mischungen jeweils eines der Temperamente dominiert:
– der Choleriker mit seinem hitzigen, aufbrausenden, zornigen Temperament, dem die berühmte »gelbe Galle« überläuft;
– der Sanguiniker, dessen »leichtes Blut«, dessen fröhliche Lockerheit sich den süßen Säften der Leber verdankt;
– der Melancholiker, bei dem die »schwarze Galle« herrscht, mit der Tendenz zu Trauer, Schwermut und zu grüblerischem Tiefsinn;
– schließlich der Phlegmatiker, schleimzäh, unerschütterlich bis hin zur Gleichgültigkeit (daher war dem Philosophen Aristoteles dieses
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