Der Musikversteher
englischen »Jigg«, das ist ein Seemanns-Tanzlied im 6/8- oder 12/8-Takt; also wird der Beat ternär geteilt, in zweimal drei oder sogar viermal drei Achtel. Besonders schön zu hören ist das bei »and the band begins to play« (ab ca. 1’05’’), wo auf das Stichwort wirklich eine Brass Band loslegt.
Aber unsere Popkünstler unter Anleitung von George Martin nutzen auch hier Techniken, die in der Avantgarde der fünfziger Jahre entwickelt worden waren, in der Musique concrète . Da wurden, etwa von dem Franzosen Pierre Schaeffer, Geräusche der Natur und des Alltags aufgenommen und musikalisiert; in YELLOW SUBMARINE sind das wunderbar verfremdete Geräusche des Meeres (Wasser in einer Zinkwanne!), Windmaschine, Ketten, Geräusche des Bootes, der Menschen (z. B. Befehls-Stimmen), Registrierkasse (!), zu hören ab ca. 1’28’’.
MICHELLE (1967) Melancholie und affectus amoris in f-Moll
– http://www.youtube.com/watch?v=GbsfZe8s56M
– http://www.youtube.com/watch?v=ifobQSP-b7E .
Subjektive Melancholie, Schwermut, Entzücken, bitter-süß: das entspricht einem »Wechselbad« von Moll und Dur. So wird schon um 1650 von Athanasius Kircher der affectus amoris,also die »Gefühlslage der Liebe«, beschrieben – schwankend zwischen »himmelhoch jauchzend« und »zu Tode betrübt«. 23 Das ist wohl das einzige Stück der Beatles, in dem ein Satz auf Französisch gesungen wird – die englische Übersetzung kommt aber direkt vorweg. Auf Deutsch: Michelle, meine Schöne, das sind die Worte, die so wunderbar zusammengehören.
In der »Intro« (0 – ca. 10’’) wird ein musikalischer »Topos« 24 verwendet, eine Redewendung, die bis zum heutigen Tage unmittelbar verständlich ist: ein chromatisch in Halbtönen abwärts gehender Bass in f-Moll, ein »Klage-Bass«, auch Lamento-Bass genannt. Es gibt ein wunderbares Vorbild bei J. S. Bach, in der Kantate »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen«: gleiche Tonart f-Moll, gleicher Bass, noch trauriger; viele Seufzer in der Melodie.
Bei den Beatles das Wechselbad der Gefühle: Der Name Michelle hat einen plötzlichen Dur-Akkord, F-Dur, freundlich, hell – es könnte alles gut werden. Und dann?
In der Hookline (ca. 08’’– ca. 33’’) hören wir ab »Michelle« ein barockisierendes Harmoniemodell, das wir im Jazz-Kapitel (s. S. 100 f.) bereits bei AUTUMN LEAVES kennengelernt haben: eine Quintfallsequenz (F-Dur – b-Moll 7 – Es-Dur 6 ). Aber auf die Worte »go to-gether (well)«, bei der Wiederholung auf Französisch »vont très bien en-(semble)« erklingt ein »Schmerzensakkord«, wie man ihn im 18. Jahrhundert nannte, ein »ganz verminderter Septakkord« (H-d-f-as). Dessen Ausdruckskraft verstehen Sie auch unmittelbar, ohne seinen Namen, seinen Aufbau, seine Geschichte zu kennen. Auf »well« bzw. »-semble« mündet dieser Akkord in die V. Stufe, die Dominante C-Dur: ein »Halbschluss«, d. h. es wird das Gefühl des Schließens vermittelt, auch der Text hat ja an dieser Stelle einen Punkt. Gleichzeitig ist aber klar, dass hier noch nicht wirklich »Schluss« ist, dass der Song weitergehen muss. Und zur Bekräftigung wird auf die Worte »très bien ensemble« dieser »Halbschluss« noch einmal variiert wiederholt. Vgl. auch das Notenbeispiel 16 auf S. 101.
Woher haben die Beatles das? Kannten sie entsprechende Stücke von Bach, Mozart, Franz Schubert? Es ist möglich, dass sie solche Wirkungen, ob nun bewusst oder unbewusst, gehört und »gespeichert« haben. Solche »Topoi«, musikalische Redewendungen, sind so verbreitet gewesen, dass sie auch im Jazz und in der anspruchsvollen Popmusik gebraucht wurden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle von George Martin. Kreativität, Spontaneität, Können und Wissen kommen in einer »Sternstunde« der Popmusik zusammen.
ELEANOR RIGBY (1966) oder Objektivierte, tiefsinnige Melancholie in e-Moll
– http://www.youtube.com/watch?v=ZDiugAewcmU
Dieser Song bringt die objektivierte Form der Melancholie zum Ausdruck: Er ist traurig, aber zugleich nachdenklich und tiefsinnig (mir gehen übrigens wie bei YELLOW SUBMARINE die Bilder aus dem gleichnamigen Heinz-Edelmann-Zeichentrickfilm nicht aus dem Kopf ).
»Ah, look at all the lonely people« – mit Streichquartett! Hallo George Martin! Ein Stück – natürlich! – in Moll, in e-Moll, in »reinem Moll«, auch Äolisch genannt. Es wird getragen von der auf S. 57 beschriebenen Pendelharmonik wie in Fryderyk Chopins berühmtem Trauermarsch: hier also ein
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