Der Musikversteher

Und immer geradtaktig, immer gemäßigt, immer regelmäßig, kein Drive.
    Aber – vielleicht hat die »Wahrheit« ja gar nichts mit Musik zu tun; vielleicht passen ja die »weißen« drei Akkorde zu jedem Inhalt; das hieße allerdings: Musik lügt grundsätzlich, oder ihr ist alles gleichgültig. Wenn das wirklich stimmt, das mit den drei Akkorden.
    Überprüfen wir es. Denn: es gibt natürlich nicht einfach »die« Country Music. Es gibt viele Spielarten. Greifen wir drei heraus.
    Tammy Wynette STAND BY YOUR MAN (1968)
    – http://www.youtube.com/watch?v=DwBirf4BWew
    Das fängt zwar mit den berühmten »drei Akkorden« in A-Dur an (A – D – A – E), aber es wird, zumindest in der Harmonik, für das Country-Genre erstaunlich differenziert: Man kommt bei der Analyse auf neun unterschiedliche Akkorde! Das ändert aber nichts daran, dass hier der Interpretin kitschige Klischees verordnet sind. Ausgerechnet Tammy Wynette, die durch kaputte Beziehungen (allein fünf Ehen) und durch den Alkohol zerrüttet war, singt hier das Hohelied der braven Ehefrau: Egal, was dein Mann dir antut, halte zu ihm, he’s just a man. Es gibt einen gemütlich schlurfenden »shuffle« (ternäres | duu-pe duu-pe duu-pe | duuuuu) – vielleicht ein Hinweis auf die Pantoffeln des gewalttätigen Göttergatten. Und dazu werden die hübschen Harmonien durch die übliche Slide-Gitarre mit Bottleneck charakteristisch eingesoßt. Aber – Hut ab, der Refrain ist ein gekonnt gemachter Ohrwurm. Nicht umsonst hat Ollie Dittrich das an den Anfang der »Dittsche«-Folgen gesetzt. Harmonien im Refrain:

    The Judds WHY NOT ME (vom Erfolgsalbum Why not me , 1984)
    – http://www.youtube.com/watch?v=-SxdsoKK9B0
    Hier nun ein Mutter-Tochter-Duo, Naomi und Wynonna, das in den achtziger Jahren extrem erfolgreich war und ein echtes Saubermann-Image hatte: die Judds.
    WHY NOT ME, von zwei Männern, Harlan Howard undBrent Maher, geschrieben, in B-Dur. Die Judds kommen wirklich fast durchweg mit den berühmten drei Harmonien aus. Außer diesen (B-Dur, Es-Dur und F-Dur) gibt es aber noch eine kleine Raffinesse, die aus der Popmusik übernommen ist: ein vereinzeltes As-Dur als tiefalterierte VII. Stufe oder auch »doppelte Subdominante«. Mutter und Tochter singen mindestens so schön wie Maria und Margot Hellwig. (Das ist nicht böse gemeint – die Hellwigs haben halt bayerischen Country gemacht.) Zum Teil wird es bei den Judds auch im Studio zum vollständigen Chor ergänzt. Sonst sind alle Klischees des Sounds, der Slide-Gitarre, des gemütlich schlendernden Taktes und des demütig auf den Herrn wartenden Weibchens versammelt. Das »girl next door« bietet sich an – why not me? Jetzt kann man, wenn man zynisch ist, sagen: Genau das hat Emmylou Harris gemeint mit »drei Akkorde (bzw. vier) und die Wahrheit« – genau das ist die Wahrheit, gegen die seit Jahrzehnten nicht nur die Frauenbewegung kämpft.
    Taylor Swift HEY STEPHEN (Debütalbum »Taylor Swift«, 2006)
    – http://www.youtube.com/watch?v=FmwqBHcq8go (Live-Solo zur akustischen Gitarre)
    Als sie im »Country« anfing, war sie gerade mal sechzehn Jahre alt. Auch sie hat das »Girl-next-door/all-american-girl«-Image wie The Judds, »sauber und weiß«.
    Taylor Swift könnte allerdings ein anderes Kaliber sein. Denn sie ist selbst Songwriterin. Endlich einmal. Aber die drei Akkorde sind wieder da (diesmal, auf dem Album, in Fis-Dur; die unten angegebene Live-Aufnahme allerdings in G-Dur), immerhin mit hübschen Reizdissonanzen, Importen aus der Popmusik. Typisch Pop: der Beginn mit einer Pendelharmonik, immer hin- und herschwingend zwischen der I. Stufe G-Dur und der IV. C-Dur 9 mit der Reizdissonanz d. Im Chorus kommt, zaghaft, ein vierter Akkord dazu, a-Moll 7 als vi. Stufe. Insgesamt ist das aber eher ein Popsong als ein Countrysong, und der sonstja so ernst gemeinte Schmalz der im Country beschworenen Gefühle wird hier durch poetische Leichtigkeit und sogar Ironie ersetzt. A propos ersetzen: die übliche Slide-Gitarre ist hier durch eine Hammondorgel ersetzt. Ob der direkt angesungene Stephen auch irgendwann ersetzt wird? Noch scheint es ihr ernst zu sein mit ihm. Er looks ja auch like an angel . Und in der letzten Strophe gibt es den wirklich hübschen Satz: »all die andern Mädchen, klar, die sind wunderschön, aber würden die einen Song für dich schreiben?«
    Starke, selbstbewusste Frauen in der Nachfolge der großen Sappho, es gab und gibt sie in zahlreichen Kulturen dieser Erde