Der Musikversteher
auseinandergepflückt werden wie die Mona Lisa.« 21
Das soll mich aber nicht daran hindern, auch solche Songs »für den alsbaldigen Verbrauch« zu »analysieren« (was ja nichts anderes heißt als »auflösen«, auseinanderpflücken). Schließlich will ich wissen – und dieses Wissen weitervermitteln –, wie solche mit Hochgeschwindigkeit hergestellten Produkte gemacht sind, welche musikalischen Vokabeln und Redewendungen in ihnen abgerufen werden, ohne dass Wert auf besondere Kunstfertigkeit oder besondere Originalität gelegt würde.
Nun ein Schritt in die Gegenwart: In den Kompositionsklassen an den Musikhochschulen nicht nur in Deutschland erreichte der Frauenanteil partiell etwa die Fünfzig-Prozent-Marke. Ähnliches gilt auch für andere Hochschulfächer; in der Schulmusik und in der Musikwissenschaft dominieren Frauen sogar – auch in der Hochschullehre.
Wie war das doch noch vor vierzig Jahren ganz anders. DieFrauenbewegung, von vielen als Frauenbeschleunigung belächelt, hat wirklich sehr vieles verändert. Frauen in Spitzenorchestern? Man sah und hörte sie nur an der Harfe, und das nicht mit fester Anstellung, sondern als Aushilfskraft. Und die anderen?
Frauen zwischen Backofen und Beethoven, zwischen Spülhölle und Klavierspielhölle, die Kreativität in der hausfraulichen Tiefkühlrolle. Heute sträuben sich nur noch die Herren Wiener Philharmoniker gegen ständige weibliche Mitspielende. Starke Frauen im Jazz, in Rock/Pop, Folk? Selbstverständlich. Aber: lange Zeit nur als Interpretinnen, nicht als Autorinnen. Warum? Man sagt ja gern: dieser Jazzstandard von Billie Holiday – dieser Song von Madonna – das Lied von Nena – dieser Hit von Britney Spears – doch diese Stücke wurden von ihnen lediglich gesungen, interpretiert (und, nicht zu vergessen, auch kreativ individualisiert). Die Kompositionen und Texte (»Lyrics«) wurden von diversen Autorenteams für sie geschrieben.
Die Kabarettistin und Chansonnette Claire Waldoff, zu Recht heute noch als Emanzipationsikone aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewundert, sang in den zwanziger Jahren ein frappierendes Berliner Couplet, stachlig-witzig bis in die Gegenwart: RAUS MIT DEN MÄNNERN AUS DEM REICHSTAG! Das hat ihr ein Mann getextet und komponiert, Friedrich Hollaender.
Ehe sich jetzt wieder das alte Vorurteil breitmacht: Das alles gilt selbstverständlich genauso für Elvis Presley, Frank Sinatra und etwa 80 Prozent der anderen männlichen Stars des Business (diese meine Privatstatistik beruht auf absolut nicht exakten, wenn auch wohlabgewogenen Schätzungen). Sie alle waren nie die Schöpfer »ihrer« Songs. Leider sind die Namen der wirklichen Autoren sehr oft gar nicht im öffentlichen Bewusstsein. Hier singe ich als Komponist meine Klage-Arie. Wo aber sind sie, die kreativen Autorinnen, die Songwriterinnen, verantwortlich für die Texte wie für die Musik?
Kleiner Exkurs:
»Country«. Die Schwäche der vermeintlich starken Frauen
Werfen wir einen Blick, lauschen wir hinein in die US-amerikanische Countryszene. »Country« zeichnet sich ja, wenn man es sehr freundlich formuliert, durch ein gewaltiges Beharrungsvermögen aus. Motto: dem guten Alten die Treue halten. Wobei es gleichzeitig »das Alte« und »der Alte« ist. Die Sprache lügt nicht.
Emmylou Harris, die große Countrysängerin, wurde nach der Essenz dieser Musik gefragt, und sie sagte philosophische Worte: »Drei Akkorde und die Wahrheit.«
Die Banalität dieses Pseudotiefsinns ist nicht zu übertreffen. Immerhin sind die Akkorde zu identifizieren: Es ist die »weiße« Grundkadenz, immer in Dur, I. Stufe (Tonika), IV. Stufe (Subdominante) und V. Stufe (Dominante). Deutsche U-Musiker nennen, wie schon erwähnt, diese musikalische Mini-Einheitswohnanlage liebevoll Stube, Kammer, Küche. Und »weiß« heißt: nicht durch den »Schmutz« des Blues angekränkelt, nicht durch Blue Notes, nicht durch Dissonanzen, nicht durch bewusst unsaubere Singweise. »Weiß« heißt aber für die fast zu 100 Prozent männlichen Songwriter leider auch meistens weißgewaschenes Saubermann-Image im Inhalt, auch wenn die realen Verhältnisse noch so kaputt sind.
Es ist doch schön, wenn die Wahrheit so problemfrei und auch so widerspruchsfrei ist, dass sie sich in drei Klischeeakkorden ausdrücken lässt. Ob traurig, fröhlich, überschwänglich, verbissen, zerknirscht, schuldbewusst, heiter: I, IV, V passt immer, das ist wie bei den Standardgrößen der Armeeuniformen.
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