Der Musikversteher
Temperament verdächtig), ruhig-gefestigt, zur mäßigen Freude neigend.
Rund um diese Temperamente ist ein Bündel von Affekten angesiedelt, von Trauer, Schmerz, Mitleid, Ruhe, Zuversicht, Hoffnung, Freude, Fröhlichkeit, Überschwang, Jubel bis zum Zorn, der Raserei, der Wut. Alle diese Temperamente und Affekte wurden von den Komponistinnen und Komponisten sehr bewusst in Musik umgesetzt, sei es nun in textgebundener oder sogar szenisch-darstellender Musik oder auch in textloser, »reiner« Instrumentalmusik.
So repräsentieren die ersten vier Präludien und Fugen aus dem berühmten Wohltemperierten Klavier (Band I) von Johann Sebastian Bach das Ruhig-Phlegmatische (C-Dur), das fast Zornig-Cholerische (c-Moll), das Heiter-Sanguinische (Cis-Dur) und das Abgründig-Melancholische (cis-Moll). Und die Rock- und Popmusik steht ganz selbstverständlich noch in dieser Tradition, ob es den »Machern« nun bewusst war oder nicht. Zeigen möchte ich das an sehr berühmten Stücken der Beatles.
HELTER SKELTER oder Cholerische Raserei in E-Dur-Moll
Das cholerische Temperament ist zornig, jäh und hitzig; da kommt einem die Galle hoch – und das liegt den Beatles offensichtlich nicht so. Man muss sehr lange suchen, bis man ein solches Stück findet. Bei einer Punkband oder im Hiphop gäbe es gar keine Probleme, im Gegenteil: Man müsste sehr langesuchen, um etwas Melancholisches zu finden oder Phlegmatisches. Ich bin aber doch fündig geworden, z. B. REVOLUTION, deutlicher noch aber in HELTER SKELTER (1968, Weißes Album ).
Holterdiepolter!, das Leben ist eine Rutschbahn, es geht rasend ganz nach unten, genauso wie eine Beziehung – ganz oben – ganz unten, man sieht sich wieder: Ausgerechnet Paul McCartney hatte 1968 geplant, in Konkurrenz zu The Who den lautesten und härtesten Song zu schreiben und zu realisieren. Und es gelang: HELTER SKELTER ist eines der frühesten Zeugnisse von Hard Rock und Heavy Metal, musikalisch und im Sound-Design mit den Verzerrungen und dem Rückkopplungskreischen der E-Gitarren, einem extrem hart traktierten Schlagzeug. Das fängt sehr »aufmüpfig« an, mit verzerrter Klangfarbe, einem Schrei, sich einbohrenden Tonrepetitionen von durchgepulsten Achteln (Liegeton e, dazu die Linie d-cis-c), bis die Finger schmerzen. Die Stimme singt dazu – wieder einmal – ein Trichord: d – e – g (siehe Notenbeispiel 18). Und das taumelt durch die Tonarten (E7/A-Dur, C-Dur, G-Dur), bis es endlich in einem Blues-geprägten E-Dur-Moll (mit Septime d) ankommt. Die gesungene Terz schwankt »neutral« zwischen g und gis. (Notenbeispiel 18)
HELTER SKELTER
– http://www.youtube.com/watch?v=ZV18scOsX54
HELTER SKELTER hat gewalttätige Gitarrenriffs, heulende Glissandi (= sirenenartiges Auf- und Abwärtsgleiten von Tönen) und sehr dissonante, collagierte Tonflächen, die allmählich verstummen.
In der dritten Minute denkt man, oha, das Stück ist abgesoffen – Anlage defekt? Nach einem Drei-Sekunden-»Loch« taucht es aber wieder auf, chaotisch-cholerisch wie zuvor, und ganz am Schluss mit einem Bertolt Brecht würdigen Verfremdungseffekt: Hier geht es nicht nur um eine zu erzählende Geschichtemit Musik, sondern die Musik und das Musikmachen sind unversehens selbst Gegenstand des Songs: »Ich hab Blasen an meinen Fingern!«, so wird lautstark vom Drummer Ringo (das Video suggeriert allerdings einen – schlecht synchronen – John) über die wundgespielten Finger lamentiert. Beatles und das Cholerische – das geht, wie gesagt, nicht so recht zusammen. Aber in HELTER SKELTER zeigt besonders Paul, »wo der Hammer hängt«: Wenn ich will, kann ich das auch.
YELLOW SUBMARINE (1969) oder Sanguinische Fröhlichkeit in Fis-Dur
– http://www.youtube.com/watch?v=LH7ZiVuxrHE )
Jetzt kommen wir zum sanguinischen Temperament; fröhlich, heiter, »leichtes Blut«. Wir vernehmen ungetrübtes Dur, fließendes Tempo: das Gelbe U-Boot, noch nicht in den schweren Gewässern der Konflikte. Dieser Song, von Paul für Ringo erfunden, hat ja richtige Kinderlied-Qualität, besonders im Refrain »We all live in a yellow submarine«: Die Beatles benutzen da das Klischee der sogenannten »Kinderlied-Pentatonik«. Da das Stück in Fis-Dur steht, sind das auf dem Klavier nur die schwarzen Tasten. Zum fröhlichen, unbeschwerten Charakter gehört natürlich auch der Rhythmus: Im Songbook steht »March tempo« darüber, aber »Marsch« ist nur ein Teil der Wahrheit: YELLOW SUBMARINE benutzt die Tradition der
Weitere Kostenlose Bücher