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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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der Menschheit sind die inszenierten Gefühle immer die gesellschaftlich wahren Gefühle – auch in der Popkultur. Das Lena-Gefühl! Das freiherrliche »zu-Guttenberg-Gefühl«! Entmenschte Mutter dreht ihre Kinder durch den Fleischwolf! BILD sprach mit den Klopsen! Der herzanrührende Auftritt der todkranken, langsam genesenden Monika Lierhaus, exakt von BILD choreografiert, samt Heiratsversprechen des scheinbar davon so überraschten Lebensgefährten. Aus Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto wurde der öffentlich private Kniefall im Medienghetto.
    Das gilt auch für alle großen falschen Gefühle, die es nicht nur in allen Künsten, sondern genau so in repräsentativen gesellschaftlichen Ereignissen gibt; besonders gefährlich immer das, was Walter Benjamin als die »Ästhetisierung der Politik« beschrieb. 39 Leni Riefenstahls grandioser »Lichtdom«, Olympia 1936: erzeugt von Flak-Scheinwerfern, die ihre realen Aufgaben etwa fünf Jahre später getreuer erfüllten, verbunden mit der musique concrète der Sirenen und der Flugzeugmotoren und den Schlagzeugsolos und den Klanggewittern der Flakgeschütze und der Bombeneinschläge.
    Wichtig ist es aber, nüchtern festzustellen, dass diese großen falschen Gefühle nur deshalb funktionieren, weil sie Anteile an den wirklichen, auch an den existentiellsten Gefühlen der Menschheit haben. Auch geliehene Gefühle, im Kino oder in der Operette oder im Casting mit Paul Potts, erzeugen echte Tränen.
    Ein Quell ungetrübter Freude ist für mich immer wieder die »Sprache der Eingeweihten«, der Rock & Pop-Schmocks im Feuilleton der großen bürgerlichen Zeitungen (das gilt aber auch für Alternativ-Blätter, die weder »groß« noch »bürgerlich« tun). Da frage ich mich oft ängstlich: Kann auch die Sprache bratzen? Oder kann sie gniedeln? Können »kammermusikalischeMelodiebögen« über den »Schnappmäulern bratzender Synthie-Bässe« balancieren? Was zum Teufel sind »prekäre Glücksmomente«?
    Was mag die poetische Metaphorik uns sagen? Zumindest sagt sie: Wer so spricht, kann gar nicht dumm sein. Hier wird Kreatiefsinn entfaltet. Wir sind eine verdammt coole Gemeinde, wir verstehen uns (und die Musik) auch ohne die brutale Eindeutigkeit und Klarheit von Begriffen. Und ich gehöre dazu, Künder und zuweilen auch Prophet. Aufforderung an mich selbst: gniedeln & googeln. Mach den Google-Hupf. Das Aufzählen von Gitarrenmarken ist der Ausweis für Kennerschaft; das ersetzt spielend den mühsamen Versuch, über die Musik selbst Auskunft zu geben.

10. Retourismus? Retrofuturismus? Bach, Ligeti (und andere) zu Besuch bei den Beatles (und bei anderen)
Über Zitate, Allusionen, Bearbeitungen, Adaptionen und Cover-Versionen als Rückversicherung und als Zukunfts-Entwurf
    Kurzanalysen: The Beatles BLACKBIRD und J. S. Bach Lautensuite e-Moll, BOURRÉE ; The Beatles A DAY IN THE LIFE und J. S. Bach AIR aus der Orchester-Suite D-Dur, György Ligeti ATMOSPHÈRES; Ashcroft A SONG FOR LOVERS, Monteverdi LAMENTO DELLA NINFA; Pet Shop Boys GO WEST, RUSSISCHE NATIONALHYMNE; Smashing Pumpkins TONIGHT, Edvard Grieg MORGENSTIMMUNG; Chemical Brothers GALVANIZE; Sting THE SECRET MARRIAGE; Eisler/Brecht AN DEN KLEINEN RADIOAPPARAT; Chaplin aus MODERN TIMES, Bartók MUSIK FÜR SAITENINSTRUMENTE, 4. SATZ
    »Das Alte, Vertraute im Gewande des Neuen« – so kann ein ( das ?) Erfolgsrezept von Popularmusik beschrieben werden. Über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in allen Künsten – als Teilen von Gesamtkulturen – ist immer wieder nachgedacht worden. In unseren Zeiten einer totalen medialen Verfügbarkeit von nahezu allen Kulturprodukten aller Zeiten der Menschheit gibt es aber neue Qualitäten im Verhältnis dieser drei Stadien zueinander. Wie gehen wir, wie gehen die Künstlerinnen und Künstler der Jetztzeit mit unserer Gegenwart um, wie entwerfen sie Projekte für die Zukunft, wie stützen sie sich auf Erfahrenes aus der Gegenwart und aus der Geschichte?
    Unterschieden werden kann zwischen »Retourismus« und »Retrofuturismus«. Das ist weniger spitzfindig, als es klingt. Retourismus wird betrieben aus Sehnsucht nach einem verklärten Vergangenen, und das ist in der Rock- und Popmusik (ebensowie in der Mode) in der Regel angesiedelt im Vor-Gestern, denn nichts ist so lächerlich wie die Mode von gestern.
    Und so sind selbstreferentiell nostalgische Popartisten der Gegenwart auf der Suche nicht nur nach stilistischen Eigentümlichkeiten der

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