Der Musikversteher
Popgeschichte; das ist das Schlussstück eines ganzen Konzeptalbums, des ersten in der Musikgeschichte, darum besonders bedeutungsvoll. Damit verabschiedeten sich die Beatles vom Status einer Live-Band; solche komplexen Dinge sind nur im Studio produzierbar. Wir finden zahlreiche Berührungspunkte zur »E-Avantgarde«. Zu hören sind John-Lennon-Strophen, Paul-McCartney-Strophen und »Bridges«. Zunächst einmal der Lennon-Beginn – ein scheinbar normaler Alltag wird besungen, mit schrecklichen Abgründen unter der Oberfläche.
– http://www.youtube.com/watch?v=ybU-Zw33PM4 (+Dokumentationen der Aufnahme; Lennon-Strophe ab 0’59’’)
Die schöne balladeske Melodie beginnt mit einem Trichord aus einer pentatonischen Urformel, die in allen Musikkulturendieser Erde vorkommt (vgl. den Pentatonik-Absatz, S. 40, auch Notenbeispiel 1d, S. 41).
Staunen macht, dass die Strophe genau die Akkord- und Bassfolge eines der berühmtesten Stücke von J. S.Bach hat, dem AIR für Orchester aus der D-Dur-Suite. Es geht stufenweise abwärts, harmonisch von I (G-Dur) über vi (e-Moll) und IV (C-Dur) nach II 7 9 (A-Dur 7 9 ).
Ich behaupte nicht, dass es ein Bach- Zitat sei. Auch Bach selbst hat diesen Topos ja nicht erfunden, sondern er hat ihn individualisiert, durch die Harmonik und besonders durch die weit geschwungen-gesungene »Aria« der Violinen. Aber: wegen der unglaublich weiten Verbreitung dieser Komposition ist sie und nicht der zugrunde liegende Topos der eigentliche rezeptionsgeschichtliche Anknüpfungspunkt. Und bei den Beatles kommt jetzt der exzeptionelle Formteil: Nach kurzer, zunächst gesungener Bridge (Vokalise mit einer Wellenbewegung zwischen den Tönen h und c 1 ), von Celli und Bratschen übernommen, der katastrophische Einbruch: ein Orchester-Cluster, gespielt von 41 Musikern aus Londoner Orchestern, sich quälend in die Höhe verschiebend. George Martin beschreibt, wie da zunächst eine »Lücke« von 24 Leertakten (ca. 40 Sekunden) war, die es zu füllen galt. 44 Es war die Idee primär von Paul, der in dieser Zeit viel Avantgardemusikgehört hatte, hier etwas Entsprechendes, aber Eigenes einzufügen. »Er wollte einen spiralförmig ansteigenden Sound entstehen lassen, wobei er sich vorstellte, dass alle Instrumente auf ihrer tiefsten Note beginnen und in ihrem eigenen Tempo zur höchsten Note hinaufklettern.« 45
Was ist ein »cluster«? In der Astronomie bezeichnet der Begriff einen »Sternenhaufen«, und übertragen wurde das in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf »Tonhaufen« in der Musik: eng zusammenliegende dissonante Tonflecken und Tonmassen. Die Referenz des sich verschiebenden Orchester-Clusters ist eindeutig: Vorbild ist György Ligetis damals europaweit berühmtes Orchesterstück ATMOSPHÈRES von 1961. Die Referenz zu »A Day« ist zu hören ca. bei 3’40’’– 4’20’’
( http://www.youtube.com/watch?v=fXh07JJeA28 ).
Die beiden Grafiken verdeutlichen die Gemeinsamkeiten, zeigen aber auch die Unterschiede der Konzeptionen. Während George Martin die Musiker improvisieren ließ (die Streicherhaben z. B. freie glissandi, Gleittöne) und die Tonmassen auch noch technisch vervielfachte, ist der sich verdünnende und in höchste Regionen entschwebende Cluster bei Ligeti genau auskonstruiert.
Im Beatles-Song erfolgt ein Schnitt – die McCartney-Strophe schließt sich an. Nach dem zweiten Erklingen der Cluster-Bridge hören wir den berühmten E-Dur-Schlussakkord der vielen Klaviere, der fast nicht verklingen will (und an dessen Schluss noch rätselhafte Geräusche/Sprachfetzen zu hören sind, die seit Jahrzehnten die Exegeten herausfordern). Bei Ligeti folgt ein Absturz aus höchsten Höhen in die tiefste Tiefe des Orchesters – nach eigener Aussage war er angeregt durch ein Bild von Pieter Brueghel, dem Älteren, den »Höllensturz« der gefallenen Engel.
Dieses und viele andere Werke des ungarischen Komponisten Ligeti sind bis heute einem sehr großen Publikum vertraut – wenn auch selten bewusst –, da sie von Stanley Kubrick inFilmen wie z. B. 2001 – Odyssee im Weltraum, The Shining und Eyes Wide Shut ungemein charakteristisch eingesetzt wurden.
Eine kleine professorale Zwischenbilanz. Solche »Besuche« repräsentieren ja verschiedene Arten von musikalischen Verfahrensweisen. Wir haben bisher gehört Zitate, wir haben gehört Allusionen der Bach-Bourrée, des Ligeti-Stückes, also anspielende Anverwandlungen, und wir haben gehört (beim Trichord und dem
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