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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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sechziger und siebziger Jahre, sondern auch nach dem Sounddesign : Analog ist wieder angesagt, man sucht die vorhandenen musealen Studios wieder auf, schwört auf handmade, unplugged . (Vielleicht nur aus Lust am Sprachwitz kommt bei mir der Verdacht auf, dass die Röhrende Röhre in der Musik dem Röhrenden Hirsch in der Kaufhaus-Trivialkultur von vorgestern entspricht.)
    Große Gefühle bedürfen der Darstellung durch einen großen Streicherapparat. Klar, jede bessere digitale Sound-Library hat das im Angebot, und mittlerweile in philharmonischer Qualität. Aber die klingt schon wieder zu perfekt, zu glatt; das stört bei der Suche nach dem Authentischen. Und daher werden reale Streicher in realen braungetäfelten Studios, in denen sogar die Holzwürmer für authentischen Klang sorgen, versammelt und mit Aufgaben betreut, die ihrem hohen Ausbildungsstandard durchaus nicht adäquat sind.
    Und wenn wir schon bei Gemeinheiten sind: So richtig analog klingt das wohl nur, wenn es digital aufgeputzt ist. Wunderbar absurd wird es, wenn aus dem Unbehagen an der Total-Digitalisierung der Gegenwart nicht nur die Dinosaurier-Synthies aus den späten Sechzigern und Siebzigern reaktiviert werden, sondern auch die ersten digitalen Zauberkästen.
    Meine Ironie gegenüber den retouristischen Gruppenreisen in eine verklärte Vergangenheit soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass – gerade, wenn in den Konzeptionen eine bewusste Konfrontation des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen geschieht – durchaus attraktive Stücke entstehen können.
    Entscheidend ist immer das Wie, nicht das Womit .
    Der Film- und Kulturkritiker Georg Seeßlen hat sehr bemerkenswerte Essays über solche Phänomene publiziert. In einem seiner neuesten denkt er auch über den Begriff des »Retrofuturismus«nach. »Immer mehr neue technologische Mittel werden aufgewandt, um immer mehr Dinge zu bewegen, die ohnehin die alten sind. (…) Der Vorrat an Fantasien, an Bildern, Erzählungen und Melodien ist begrenzt. Sehr begrenzt. Deshalb wird in gewissen Phasen besonders deutlich, dass man ohnehin nur immer wieder die alten Geschichten in neuem Gewand erzählt, oder dass Britpop nur eine aufgeraute Version der Beatles ist. Die Beatles boten auch nur eine abgespeckte und beschleunigte Variation von Schubert, der seinerseits von Mozart … usw.« 40
    An dieser Stelle sei an das erinnert, was im Kapitel »Kopf und Bauch« auf S. 126 analytisch bei MICHELLE festgestellt wurde: die gleichermaßen AUTUMN LEAVES, Mozart und Schubert verpflichtete Quintfallsequenz. Die Schubert-Referenz war auch in THE FOOL ON THE HILL (S. 155) bemerkt worden. Weiter Georg Seeßlen:
    »Die Zukunft kann trotzdem irgendwie ganz interessant sein. Die Vergangenheit war eigentlich ganz okay. Bloß die Gegenwart, also die Gegenwart geht gar nicht. Offensichtlich ist die Abschaffung der Gegenwart ein fortschreitendes politisch-ökonomisches Projekt, in das die unterschiedlichsten Interessen und Impulse einfließen. Die Macht, der Profit, und ehrlich gesagt auch die Bequemlichkeit. (…) Die Flucht in die Vergangenheit und die Flucht in die Zukunft, die, wie wir seit Star Wars wissen, auch nur eine aufgemotzte Form der Vergangenheit ist, scheinen Antworten auf eine frühe grammatische Kampfansage zu sein: Der Angriff der Gegenwart auf die übrigen Zeiten wurde beantwortet mit einem Bündnis der übrigen Zeiten gegen die Gegenwart. Eine besonders sichtbare und deshalb vielleicht noch eine der harmloseren Formen dieses Bündnisses ist der Retrofuturismus, die Idee, man könne sich eine Zukunft so vorstellen, wie man sie sich vielleicht in der Vergangenheit vorgestellt hat. Dafür ist das Kino eine perfekte Maschine. Sie hat Erfahrung darin, jede technische Neuerung dazu zu verwenden, der technologischen und sozialen Gegenwart den Rücken zuzukehren.«
    Eben das ist der Clou zahlreicher Rock- und Popstücke und auch Schlager der Gegenwart: Romantisierende Gefühle einer verklärten Vergangenheit werden mit allen technischen Raffinessen der Gegenwart so produziert, dass sie –  gewinnträchtige – Zukunftsträume figurieren.
    Wie nun kommen die Beatles zu Bach – oder wie kommt Bach zu den Beatles? Und was machen die dann mit bzw. aus diesem lieben Besuch? Sind auch sie »Retrofuturisten«, oder zielen sie durch Adaptionen auf eine aktive Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart? Wir hatten schon Beispiele – so das Zitat der F-Dur-Invention durch die Trompeten in der Coda von ALL YOU

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