Der Musikversteher
Jahren erheben wir Futuristen uns dagegen, dass der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird (…) Demgemäß stellen wir fest: (…) Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone,der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfüms und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft (…) Dichter und Künstler des Futurismus (…) erinnert euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik (…) von ihnen erleuchtet werde!« 35
Karlheinz Stockhausen, der große und kreative deutsche Avantgardekomponist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, äußerte sich zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001: »Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat … Dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. [Zögert.] Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. … Ein Verbrechen ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen niemand angekündigt, ihr könntet dabei draufgehen.« 36
Stockhausen betonte später, im Sinne seiner Opernfigur Luzifer, des gefallenen Engels aus dem Licht -Zyklus, gesprochen zu haben.
Oft frage ich mich, wie es kommt, dass Komponisten oft »dümmer« sind als ihre Musik. Also:
Die Musik ist oft »klüger« ist als ihre Komponisten
In der »Musiksprache«, in die jeder Komponist, jede Komponistin ja ganz selbstverständlich hineinwächst, ist unglaublich viel an Informationsgehalt gespeichert, an Sinngehalt, an emotionalem Reichtum, an Redewendungen und Verfahrensweisen. Man muss sich all dessen gar nicht bewusst sein und hat trotzdem diese Sprache sprechen gelernt – und kann in ihr auch kreativ sein, Altes auf neue Weise sagen bzw. sogar ganz Neues erfinden.
Kann »Dummheit« als »handwerkliches Unvermögen« definiert werden? Nein, das ist unabhängig voneinander: auch ein sehr kluger und gebildeter Komponist kann kompositorischer Dilettant sein mit heftigen handwerklichen Defiziten. Umgekehrt kann ein begnadeter, ja genialer musikalischer »Handwerker« menschlich, politisch, ästhetisch ziemlich dumm sein.
Der Inbegriff des dumpfen, dumm vor sich hin trottenden Marschliedes ist die Nazihymne HORST-WESSEL-LIED (1929), die im »Dritten Reich« immer zusammen mit der ersten Strophe des DEUTSCHLANDLIEDES (Deutschland, Deutschland über alles) erklang. Das veranlasste Bertolt Brecht im Exil, in seinen »Schwejk im II. Weltkrieg« den KÄLBERMARSCH (1944) als Parodie des Horst-Wessel-Liedes zu integrieren. Aus »Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen, SA marschiert mit ruhig-festem Tritt. Kam’raden, deren Blut im Kampfe schon geflossen, sie zieh’n im Geist in ihren Reihen mit« wird: »Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen. Das Kalb marschiert mit ruhig-festem Tritt. Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen, sie zieh’n im Geist in ihren Reihen mit.«
Hanns Eisler hat das kongenial in Musik umgesetzt. Die erzählenden Strophen (»Hinter der Trommel her trotten die Kälber«) haben Chanson-Tonfall und Elemente der Jazz-Harmonik,während der Refrain das originale HORST-WESSEL-LIED zitiert und zugleich verfremdet.
Dass sich auch Schlagerkomponisten auf die Propagandamaschinerie der Nazis eingelassen haben (und dabei viel Geld verdienten), gehört zu den unrühmlichen Tatsachen der
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