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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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Geschichte der Popularmusik. Stellvertretend genannt sei Norbert Schulze junior. Von ihm wurde der zum Welthit gewordeneSchlager »Lili Marleen« komponiert. Aber auch so schöne Propaganda-Wehrmachts-Grölmärsche wie »Bomben auf Engelland« stammen von ihm, der bis in die frühen fünfziger Jahre als »Schuldiger« Publikationsverbot hatte.
    »Rechte« Dummheit hat auch in der Rock-/Popmusik und im Rap Einzug gehalten – primär im Deutschen. Die Böhsen Onkelz sind zwar schon Vergangenheit, aber sie haben einige Nachfolger gefunden. Latent faschistoides, explizit autoritäres, offen dumm-dumpfes Verhalten und vermittelte Haltungen sind aber im Genre auch bei eigentlich »unverdächtigeren« Gruppen zukonstatieren, z. B. bei Scooter: HYPER, HYPER – ein Protokoll des Grauens – ich verweise auf die Analyse S. 291.
Ketchup bleibt Ketchup oder Wenn die Sauce wichtiger ist als das Essen
    Der »Heile-Welt-Schlager« gießt, wie es auch die volkstümlichen Musikanten praktizieren, seine Sauce über Schunkelrhythmen aus. Alle dürfen sich wiegen oder sogar mitklatschen – ungestraft auf »1« und »3« oder sogar gleichmäßig pro »Zählzeit«/ »Beat« (vgl. das Rhythmus-Kapitel, S. 76). Der »Pop-Schlager« eines Michael Wendler (der unglaublich erfolgreich ist!) hat zwar die identische Rezeptur für die Sauce, serviert sie aber viel »moderner«. Statt Mitmach-Schunkel-Rhythmen gibt’s Kirmestechno aus dem Drumcomputer. Für größere Arrangements, also mehr investierte Arbeitszeit und mehr handwerkliches Können, ist weder Zeit noch Geld da – noch die Befähigung. Das wird offen zugegeben. Zwei Takte musikalischer Einfall, mit der Maxime »das gute Alte im Gewande des Neuen«, dazu eine griffige Hookline im Text, plus Kirmestechno – den Rest macht der vertraute Tonmeister. 37
    Bei den Saucen der musikalischen Adaptionen von früheren Kompositionen, gern auch aus dem Bereich »Klassik«, geht es nicht um »produktive Aneignung«, sondern um ein offensives Zukleistern mit dieser synthetischen, mit musikalischen Geschmacksverstärkernkontaminierten Sauce, die mit dem Zugekleisterten nichts zu tun hat: Ich erinnere mich z. B. an den Beginn von W. A. Mozarts »großer« g-Moll-Symphonie mit den Standard-Disko-Dummbeats aus der Retorte. Mozarts rhythmische Raffinessen werden schlicht zugedumpft mit mechanischem Totschlagzeug; Motto: »Mit so ’m Mozart hört sich mein Drumcomputer aber ganz anders an als mit Michael Wendler«, oder, wie jeder Koch bestätigen würde: »Ketchup schmeckt plötzlich ganz anders, wenn man statt Tafelspitz Karamellpudding drunterzieht.« Stimmt! Und viele Leute mögen das! Ketchup bleibt Ketchup!
    Wie kommt es aber, dass ein Popstück, das aus vielen »dummen« und klischeeverhafteten Einzelsegmenten zusammengesetzt ist, dennoch originell wirken kann? Wenn das Zusammensetzen, das Kombinieren das eigentlich Schöpferische ist, nicht das Erfinden der Segmente. Wissenschaftlich gesprochen: das Material und die Verfahrensweisen treten auseinander, und der »Einfall« ist die Art der Kombinatorik. Das möchte ich an einem Song demonstrieren, der in Deutschland zu einer Art Volkslied geworden ist. Er wurde für (nicht von!) Drafi Deutscher in den sechziger Jahren geschrieben: MARMOR, STEIN UND EISEN BRICHT (WEINE NICHT, WENN DER REGEN FÄLLT, 1965 ) . Gezeigt werden soll, dass vielfältige Dummheiten so synthetisiert werden, dass die erwähnte originelle Unverwechselbarkeit daraus resultiert.
    Da muss, vorweg, auf die normale Herstellungsweise von Schlagern, von »Pop light« verwiesen werden: Erst ist die Melodie da, nicht arrangiert, mit dürrem Akkordgerüst; die wird dann zum Texter geschickt; wenn der seine Arbeit getan hat, wird nach Interpreten gesucht; den spezifischen Interpreten wird dann, weiterhin in der Regel arbeitsteilig, im »Producing« ein spezifisches, »auf den Leib geschnittenes« Arrangement hinzugefügt.
    Der Texter hört also das »nackte« Demo, vier plus vier Takte am Beginn, und ihm fällt etwas ein, zumindest zur ersten Phraseder Musik: Rezitation auf einem Ton plus kleinem Nebenton (untere Wechselnote, so heißt das in der Musiktheorie) und Terz-Sprung aufwärts bei »Regen«:

    Eine erstaunlich sinnlose Aussage, die sich wahrscheinlich deshalb im Hirn festbohrt – und dann die Reim-Entsprechung »Es gibt einen, der zu dir hält«.

    Aber, verflixt, da sind doch noch textfreie Takte dazwischen, und die kommen in der zweiten Zeile noch einmal! Was tun?

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