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Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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zehntausend Jahren Staub, wird sein Name vergessen sein. Ein paar Archäologen werden vielleicht nach unserer Epoche suchen. Diese Vorstellung ist immer lehrreich gewesen. Denkt man recht über sie nach, so reduziert sie unsere Handlungen auf den tiefen Adel, der in der Gleichgültigkeit zu finden ist. Vor allein lenkt sie unsere Sorgen auf das Sicherste, das heißt auf das unmittelbar Naheliegende. Von allem Ruhm ist der am wenigstens trügerisch, der erlebt wird.
    Der Schauspieler hat also den unzählbaren Ruhm gewählt, den Ruhm, der ständig bestätigt und erfahren wird. Aus der Tatsache, daß eines Tages alles sterben muß, zieht er den besten Schluß. Ein Schauspieler hat Erfolg oder nicht. Ein Schriftsteller behält eine kleine Hoffnung, auch wenn er verkannt wird. Er nimmt an, seine Werke werden bezeugen, was er war. Der Schauspieler wird uns bestenfalls eine Photographie hinterlassen, und nichts von dem, was er war, von seinen Gebärden und von seinen Pausen, von seinen Atemstößen und seinem zärtlichen Hauchen wird auf uns kommen. Unbekannt sein heißt für ihn: nicht spielen, und nicht spielen heißt für ihn: hundertmal mit all den Wesen sterben, die er beseelt oder auferweckt hätte.

Die Mission des Komödianten

    Ist es erstaunlich, daß ein flüchtiger Ruhm auf die vergänglichen Schöpfungen der Kunst gegründet ist? Drei Stunden stehen dem Schauspieler zur Verfügung, um Jago oder Alkestis, Phädra oder Glocester zu sein. In dieser kurzen Spanne läßt er sie auf fünfzig Quadratmetern Bretterboden erstehen und sterben. Nie sonst ist das Absurde so treffend und so ausführlich dargestellt worden. Die wundersamen Lebensläufe, diese einzigartigen und vollständigen Schicksale, die in wenigen Stunden zwischen drei Wänden ansteigen und sich erfüllen - welcher gedrängte Abriß könnte uns mehr enthüllen? Abgetreten vom Schauplatz, ist Sigismund nichts mehr. Zwei Stunden später sieht man ihn in der Stadt speisen. Dann ist das Leben vielleicht ein Traum. Aber nach Sigismund kommt ein anderer. An die Stelle des Mannes, der nach Rache schreit, tritt der Held, der unter Ungewißheit leidet. Indem er so die Jahrhunderte und die Geister durchläuft und den Menschen spielt, so wie er sein kann und so wie er ist, begegnet der Schauspieler sich mit jener anderen absurden Figur: dem Reisenden. Wie jener schöpft er etwas aus, um unaufhaltsam weiterzueilen. Er ist der Reisende der Zeit und (das gilt für die besten) der Reisende der Seele. Wenn je die Moral der Quantität Nahrung finden könnte, dann auf dieser sonderbaren Bühne. In welchem Maße der Schauspieler von seinen Rollen profitiert, ist schwer zu sagen. Das ist aber auch nicht so wichtig. Wir müssen nur wissen, an welchem Punkt er sich mit diesen einmaligen Leben identifiziert. Tatsächlich geschieht es, daß er sie mit sich herumträgt, daß sie leichtfüßig über die Zeit und den Raum hinausgehen, denen sie entstammen. Sie begleiten den Schauspieler, er trennt sich nicht mehr so leicht von dem, was er gewesen ist. Nimmt er sein Glas, so fällt er vielleicht in die Gebärde Hamlets, der seinen Becher hebt. Nein, der Abstand, der ihn von den Gestalten trennt, die er lebendig macht, ist nicht so groß. So verdeutlicht er reichlich, Tag für Tag und Monat für Monat, die fruchtbare Wahrheit, daß es zwischen dem, was ein Mensch sein will, und dem, was er tatsächlich ist, keine Grenze gibt. Wieweit der Schein das Sein ist, das beweist er, stets damit beschäftigt, es besser darzustellen. Denn das eben ist seine Kunst: vollkommen zu täuschen und so tief wie möglich in Leben, die nicht seine Leben sind, einzudringen. Am Ziel seiner Anstrengung wird seine Berufung deutlich: sich mit allen Kräften darum zu bemühen, nichts zu sein oder mehreres. je enger ihm die Grenzen gezogen sind, innerhalb derer er seine Figur erschaffen muß, um so nötiger braucht er seine Begabung. Er wird in drei Stunden mit dem Gesicht sterben, das heute sein Gesicht ist. In drei Stunden muß er ein außergewöhnliches Schicksal erleben und ausdrücken. Das heißt: er muß sich verlieren, um sich wiederzufinden. In diesen drei Stunden geht er den Weg ohne Ausflucht, für den der Mensch im Parkett sein ganzes Leben braucht, bis ans Ende.
    Als Darsteller des Vergänglichen übt und vollendet der Schauspieler sich nur in der Welt des Sichtbaren. Es gehört zur Konvention des Theaters, daß das Herz sich nur durch die Gebärden und im Körperlichen verständlich

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