Der Mythos des Sisyphos
abzuschwören. Dadurch verlor sie die Wohltat der Beichte. Was bedeutet das denn tatsächlich, wenn nicht: für ihre tiefe Leidenschaft und gegen Gott Partei nehmen? Und diese Frau, die sich im Todeskampf unter Tränen weigerte zu verleugnen, was sie ihre Kunst nannte, bezeugte damit eine Größe, die sie vor der Rampe nie erreicht hatte. Das war ihre schönste Rolle, und sie war am schwersten durchzuhalten. Zwischen dem Himmel und einer zum Spott herausfordernden Treue wählen, sich selbst der Ewigkeit vorziehen oder sich in Gott versenken - in dieser, Tragödie unseres Jahrhunderts müssen wir uns behaupten.
Die Komödianten jener Zeit wußten, daß sie exkommuniziert waren. Diesen Beruf ergreifen hieß: die Hölle wählen. Und die Kirche erkannte in ihnen ihre schlimmsten Feinde. Einige Literaten entrüsten sich: Es war aber richtig so, zumal bei ihm, der auf der Bühne starb und unter der Schminke ein Leben abschloß, das ganz und gar der Zerstreuung gewidmet war. Man beruft sich im Zusammenhang mit ihm auf das Genie, das alles entschuldige. Aber das Genie entschuldigt nichts, eben weil es sich dem versagt.
Der Schauspieler wußte also, welche Strafe ihm versprochen war. Aber welchen Sinn konnten derart vage Drohungen haben angesichts der letzten Züchtigung, die das Leben selber für ihn bereithielt? Gerade diese Strafe empfand er voraus, und er nahm sie ganz und gar an. Für den Schauspieler wie für den absurden Menschen ist ein vorzeitiger Tod irreparabel. Nichts kann all die Gesichter und Jahrhunderte aufwiegen, durch die er sonst hindurchgegangen wäre. Aber so oder so - man muß eben sterben. Denn der Schauspieler ist fraglos überall, aber die Zeit nimmt auch ihn mit und tut ihre Wirkung an ihm.
Man braucht nicht viel Einbildungskraft, um jetzt zu fühlen, was ein Schauspielerschicksal bedeutet. In der Zeit komponiert er seine Gestalten und zählte sie auf. In der Zeit lernt er sie auch beherrschen. Je mehr verschiedene Leben er gelebt hat, um so besser trennt er sich von ihnen. Es kommt die Zeit, da er auf der Bühne und in der Welt sterben muß. Was er gelebt hat, steht ihm vor Augen. Er sieht klar. Er fühlt das Herzzerreißende und Unersetzliche dieses Abenteuers. Er weiß - und kann jetzt sterben. Es gibt Heime für alte Komödianten.
DIE EROBERUNG
, sagte der Eroberer, Ich habe nicht viele Ansichten. Am Ende eines Lebens wird der Mensch gewahr, daß er Jahre damit verbracht hat, sich einer einzigen Wahrheit zu versichern. Aber eine einzige Wahrheit - wenn sie evident ist - genügt, um ein Dasein zu führen. Ich jedenfalls habe entschieden, etwas über das Individuum auszusagen. Mit Härte muß man von ihm sprechen und, wenn nötig, mit der angemessenen Verachtung.
Ein Mensch ist mehr ein Mensch durch das, was er verschweigt, als durch das, was er sagt. Ich werde viel verschweigen. Aber ich glaube steif und fest, daß alle, die über das Individuum geurteilt haben, ihr Urteil mit viel weniger Erfahrung als ich begründet haben. Der Verstand, der rührige Verstand, hat vielleicht geahnt, was festzustellen wäre. Aber das Zeitalter, seine Trümmer und sein Blut überhäufen uns mit evidenten Tatsachen. Alten Völkern, selbst den jüngsten bis in unser Maschinenzeitalter hinein, war es möglich, die Tugenden der Gesellschaft und die des Individuums im Gleichgewicht zu halten, dem nachzugehen, was dem anderen dienlich war. Das war zunächst möglich dank einer hartnäckigen Verwirrung des menschlichen Herzens, nämlich dank der Meinung, die Lebewesen seien in die Welt gesetzt worden, um zu dienen oder um bedient zu werden. Es war ferner möglich, weil weder die Gesellschaft noch das Individuum ihre ganze Geschicklichkeit entwickelt hatten.
Ich habe es erlebt, daß kluge Menschen sich über die Meisterwerke der holländischen Maler wunderten, die während der blutigen flandrischen Kriege geschaffen wurden, und daß sie sich über die Predigten der schlesischen Mystiker erregten, die mitten in dem
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