Der Nachbar
körperlichen und seelischen Verwundungen nicht mehr zu heilen sind. Im Gegensatz dazu werden keine fünf Kinder pro Jahr von Fremden getötet.
Als die
News of the World
, die Zeitung mit der höchsten Auflage in Großbritannien, letztes Jahr im Rahmen eines von ihr gestarteten Feldzugs Pädophile zwingen wollte, sich zu ‘outen’, indem sie Namen, Adressen und Fotografien amtsbekannter Täter veröffentlichte, und sich dabei auf Megan's Law berief, ein in den USA geltendes Gesetz, demzufolge sich vorbestrafte Pädophile nach ihrer Haftentlassung bei der Polizei der Gemeinde melden müssen, in der sie sich niederlassen, stieß die Kampagne auf geteilte Meinungen. Ein großer Teil der Bevölkerung, dem noch der jüngste, von einem mutmaßlich pädophilen Mann verübte Kindsmord in den Knochen steckte, nahm die Initiative mit Beifall auf. Die Polizei, Bewährungshelfer und in der Sache erfahrene Anwälte behaupteten, sie werde nicht zum gewünschten Ziel führen, sondern das Gegenteil bewirken und Pädophile veranlassen, ihre Therapie abzubrechen und aus Angst vor Angriffen von Selbstjustizgruppen unterzutauchen.
Ihre warnenden Vorhersagen erfüllten sich prompt. Einem Bericht der Bewährungshilfe zufolge, hatten Sexualtäter in allen Teilen Großbritanniens bereits ihren Wohnsitz verlegt, ihren Namen geändert und den Kontakt zur Polizei abgebrochen, oder sie planten, solche Schritte zu unternehmen. Noch beunruhigender ist vielleicht, dass nach der Veröffentlichung von 83 Namen, Adressen und Fotos in einem Sonntagsblatt aufgebrachte Bürger die Wohnungen einiger dieser angeblichen Pädophilen überfielen und auf der Straße randalierten.
In nahezu allen Fällen handelte es sich bei den Attackierten um unschuldige Menschen, die den Zorn ihrer Mitbürger zu spüren bekamen, weil entweder die Zeitung eine falsche oder überholte Adresse abgedruckt hatte oder die Leute eine Ähnlichkeit zwischen dem veröffentlichten Foto und dem Angegriffenen erkannt zu haben meinten. Das Absurdeste und Erschreckendste Beispiel ist der Fall eines Kinderarztes, dessen Haus und Auto von einer wütenden Menge zerstört wurden, weil die Leute glaubten, ein Pädiater – der Fachausdruck für Kinderarzt – wäre das Gleiche wie ein Pädophiler – ein Erwachsener, dessen Sexualtrieb auf Kinder gerichtet ist.
In Anbetracht dieser Zwischenfälle stellte die
News of the World
ihre Kampagne ein, die sie mit dem Versprechen gestartet hatte, »jeden Pädophilen in Großbritannien öffentlich und namentlich an den Pranger zu stellen«. »Nun ist es unsere Aufgabe, die Regierung zum Handeln zu zwingen (gemäß Megan's Law)«, erklärte der Herausgeber kampflustig, »und wir werden jeden Politiker öffentlich und namentlich an den Pranger stellen, der sich uns in den Weg stellt.«
Die Diskussion über die Behandlung von Pädophilen hält ungehindert an, doch die Statistiken zeigen, dass Tausende Kinder zu Hause in der Familie weit größerer Gefahr ausgesetzt sind als draußen auf der Straße. Nach einem noch nicht lange zurückliegenden Prozess gegen mehrere Pädophile, die über das Internet kinderpornographisches Material austauschten, wies ein Sprecher der Polizei darauf hin, dass die pornographischen Darstellungen, die derzeit in Umlauf sind, seit einiger Zeit einen beunruhigend familiär-häuslichen Touch hätten. »Früher wurden Kinderpornos im Atelier gefilmt«, sagte er, »aber bei den neuen Aufnahmen hat man den Eindruck, sie wären bei den Kindern zu Hause gedreht worden. Im Hintergrund sind Spielsachen zu erkennen. Das legt nahe, dass mindestens ein Elternteil oder auch beide an dem Missbrauch teilhatten.«
Es ist natürlich bequem, sich mit der Auffassung zufrieden zu geben, dass nur sadistische Fremde sich an Kindern vergreifen. Die kleine Anna Climbie wurde jedoch von den Menschen terrorisiert und getötet, die eigentlich für sie sorgen sollten. Tatsache ist, dass unzählige Säuglinge von wütenden BetreuerInnen zu Tode geschüttelt wurden. Beim Kindernotruf gehen täglich 15000 Anrufe von verzweifelten Kindern ein. In der Mehrzahl der Fälle wird der sexuelle Missbrauch in der Familie verübt. Die meisten Pädophilen wurde als Kinder selbst sexuell missbraucht. Kinderpornografie gibt es, weil Eltern das verbrecherische Spiel mitmachen und ihre Kinder für Geld schutzlos preisgeben.
Sind wir denn immer noch nicht bereit, die wahren Täter »öffentlich und namentlich an den Pranger zu stellen«?
Anne Cattrell
2
20. –
Weitere Kostenlose Bücher