Der Nachbar
etwas entspannte. »Was wollten Sie denn mit mir besprechen?« fragte sie.
»Es trifft sich gut, dass wir gerade von Melanie reden«, hakte Fay sogleich ein. »Es geht nämlich unter anderem um sie. Claire lehnt jede Diskussion über das Thema ab – sie behauptet, es gäbe nichts zu besprechen –, aber ich kann ihr da beim besten Willen nicht folgen. Erstens nehme ich unsere Arbeit um einiges ernster als sie, und zweitens wissen wir doch, dass Melanies Kinder ständig auf der Straße herumhängen und –«
Sophie schnitt ihr das Wort ab. »Hören Sie auf, Fay«, sagte sie mit ungewohnter Schärfe. »Sie haben Ihre Ansichten über Melanie letzte Woche deutlich genug zum Besten gegeben.«
»Ja, aber –«
»Nein!« Sophie drehte sich herum. Ihre Augen waren zornig. »Ich werde mich nicht noch einmal mit Ihnen über Melanie streiten. Begreifen Sie denn nicht, dass Claire Ihnen nur eine Brücke bauen möchte, wenn sie jede weitere Debatte zu diesem Thema ablehnt?«
»Sie können der Diskussion nicht aus dem Weg gehen«, entgegnete Fay, sofort aufgebracht. »Schließlich bin auch ich für Melanie zuständig.«
Sophie griff nach ihrem Köfferchen. »Jetzt nicht mehr. Ich habe Claire gebeten, Melanie eine der jüngeren Betreuerinnen zuzuweisen. Sie wollte es Ihnen am Montag mitteilen.«
Fays stark gepudertes Gesicht verlor alle Farbe. Der Ruhestand war wohl plötzlich einen bedrohlichen Schritt näher gerückt. »Sie können mir keine Betreuungspersonen wegnehmen, nur weil Sie anderer Meinung sind als ich«, rief sie heftig.
»Wenn Sie eine meiner Patientinnen als Hure und Schlampe beschimpfen und völlig aus der Rolle fallen, wenn ich es wage. Ihnen zu sagen, dass das so nicht geht, dann ist das etwas Ernsteres als eine Meinungsverschiedenheit«, entgegnete Sophie kühl. »Es ist schlicht unprofessionell, Fay.«
»Aber was anderes ist sie doch nicht«, zischte Fay wütend. »Sie kommen aus gutem Hause... Sie müssten eigentlich fähig sein, das selbst zu erkennen.« Speicheltröpfchen flogen von ihren Lippen. »Sie geht mit jedem Kerl ins Bett, der auch nur das geringste Interesse an ihr zeigt – in der Regel, wenn sie betrunken ist –, und dann stolziert sie herum wie Graf Koks und erzählt jedem, der es hören will, dass sie wieder schwanger ist – als wär das was, worauf man stolz sein kann.«
Sophie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, sich mit dieser Person herumzustreiten. Jede Auseinandersetzung mit ihr endete unweigerlich im Persönlichen. Ihre Ansichten waren von ihrem eigenen Lebensstil gefärbt. Sie hätte in die Zeiten gepasst, als uneheliche Kinder eine Schande gewesen, und Frauen, die »nichts auf sich hielten«, in Heime gesperrt und mit Verachtung gestraft worden waren. Damals hätte sie als ‘anständige Frau’ noch etwas gegolten und nicht wie heute einzig Mitleid oder Belustigung hervorgerufen. Es war ein Rätsel, wieso sie ihre Berufung ausgerechnet darin gesehen hatte, sich im öffentlichen Gesundheitswesen zu betätigen, wiewohl es, wie der leitende Arzt des Health Centres gern zu bemerken pflegte, zu der Zeit, als sie angefangen hatte, wahrscheinlich das Hauptanliegen des Gesundheitsdiensts gewesen war, »den ungewaschenen Pöbel zu maßregeln und zu drillen«.
Sophie öffnete die Bürotür. » Ich gehe jetzt«, sagte sie mit Entschiedenheit und trat demonstrativ von der Tür zurück, um Fay vorausgehen zu lassen.
Fay stand auf. Ihre Kiefer mahlten unkontrolliert wie die einer senilen Alten. »Na schön, aber sagen Sie hinterher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt«, stieß sie mühsam beherrscht hervor. »Sie glauben, Sie könnten alle gleich behandeln... aber das ist eine Illusion. Ich kenne diese viehischen Schweine – ich sehe täglich, was sie bei den unschuldigen Kleinen anrichten, die sie missbrauchen. Es läuft alles klamm heimlich ab – hinter verschlossenen Türen – brutale, abartige Kerle – dumme Weiber, die nicht sehen wollen, was sich da abspielt... und es dreht sich immer um das Gleiche. Immer nur um Sex!« Sie spie das Wort aus wie einen ekelhaften Geschmack. »Aber na ja –
meine
Hände sind wenigstens sauber. Niemand kann behaupten, ich hätte nicht mein Bestes getan.« Sie rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Büro hinaus.
Sophie sah ihr konsterniert nach. Du lieber Gott!
Viehische Schweine...
?
Brutale, abartige Kerle...
? Fay war ja völlig von der Rolle. Es war schlimm genug, Melanie eine Schlampe zu nennen. Hundertmal schlimmer, sie und ihre
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