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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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eigentümliches Gefühl, ihm heute, nach so langer Zeit, wieder gegenüberzusitzen.
    Der Psychiater schien keinen Tag älter geworden zu sein. Wie früher trug er das Haar ungewöhnlich lang und zu einem grauen Pferdeschwanz gebunden. Anscheinend gab er sich noch immer die größte Mühe, aus dem Rahmen zu fallen. Was allerdings zu Leons Kindertagen noch ein Skandal gewesen war, galt heute allenfalls als extrovertiert: Volwarths Lederhosen, seine Cowboystiefel, die Schwalbentätowierung am Hals. Auf der Suche nach Zeichen der Zeit wurde Leon nur in Details fündig: Die Mundwinkel hingen etwas tiefer, die Ringe unter den Augen waren eine Nuance dunkler. Und der Arzt hatte den Perlenohrring durch einen dezenten Silberstecker ersetzt.
    »Verdammt lang her, was? Ist ein halber Strand durch die Sanduhr gerauscht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
    Leon nickte. Vor knapp siebzehn Jahren hatten seine besorgten Eltern ihn zum ersten Mal zu Volwarths Privatklinik gefahren.
    Wobei er Klaus und Maria damals noch nicht als seine Eltern bezeichnet hatte. Die ersten Jahre nach dem Unfall wäre es ihm wie ein Verrat an seinen leiblichen Eltern erschienen, die er im Alter von zehn Jahren durch einen Lebensmüden verloren hatte. Ein depressiver Alkoholiker hatte sich mit Absicht die falsche Auffahrt der Autobahn ausgesucht, um schneller aus dem Leben zu scheiden. Der ungebremste Frontalaufprall hatte drei Todesopfer gefordert. Nur zwei Insassen überlebten: Leon, der sich noch daran erinnern konnte, wie er und seine Schwester zu Yellow Submarine im Radio gesungen hatten, als plötzlich die Lichter vor ihnen auftauchten. Und der Geisterfahrer, der mit einem gebrochenen Schlüsselbein davongekommen war. Eine Ironie des Schicksals, über die vermutlich nur der Teufel lachen konnte.
    Die ersten Tage, nachdem Leon im Krankenhaus als Waise aufgewacht war, hatte er wie unter einer Taucherglocke gelebt. Er hatte die Diagnosen der Ärzte, die Ratschläge des Kinderpsychologen und die Erläuterungen der Dame vom Jugendamt gehört, sie aber nicht verstanden. Die Lippen derer, die ihn untersuchten, pflegten und am Ende zu Ersatzeltern abschieben wollten, hatten sich bewegt und Laute erzeugt, die keinen Sinn ergaben.
    »Schön haben Sie es hier«, sagte der Psychiater nun, fast zwei Jahrzehnte später, den Blick auf die stuckverzierte Zimmerdecke gerichtet. »Altbau mit Fahrstuhl und Parkett. Südbalkon, sechs Zimmer, schätze ich. Wird nicht leicht gewesen sein, so etwas in dieser Gegend zu finden.«
    »Es sind fünf Zimmer. Aber ja. Es war die Stecknadel im Heuhaufen.«
    Natalie hatte die Anzeige durch Zufall beim Spazierengehen entdeckt und den Vermieter angeschrieben, ohne sich große Hoffnungen zu machen. Sie hatten sogar an einen Scherz gedacht, denn ein derartiges Filetstück fand man eher in den Hochglanzprospekten der Luxusmakler als an dem Mast einer Straßenlaterne.
    Ein ganzes Jahr hatten sie auf der Warteliste gestanden und eine Bürgschaft nach der anderen nachreichen müssen, bis sie von der Hausverwaltung endlich den Zuschlag bekamen. Leon wusste bis heute nicht, was am Ende den Ausschlag gegeben hatte, dass sie sich gegen die Heerschar der anderen Bewerber hatten durchsetzen können. Normalerweise wurde eine derart begehrte und nicht gerade günstige Wohnung nur an Mieter mit festem Einkommen vergeben. Nicht an zwei selbständige Freiberufler mit unsicherer Auftragslage.
    »Wussten Sie eigentlich, dass ich erst kürzlich wieder über Ihren Fall auf einem Symposium gesprochen habe?«, fragte der Psychiater unvermittelt.
    Volwarth schien jede Reaktion seines Gesprächspartners zu beobachten, und nicht zum ersten Mal, seit der Arzt die Wohnung betreten hatte, fühlte sich Leon in jene Therapiestunden zurückversetzt, die einen Großteil seiner Kindheit bestimmt hatten. Während andere Jungs zum Baggersee fuhren, in der Kiesgrube Fußball spielten oder im Garten ein Baumhaus zimmerten, hatte dieser Mann ihn verkabelt, an Computer angeschlossen und mit unzähligen Fragen in seiner Seele herumgestochert.
    »Was war denn nun der Auslöser dafür, dass Sie mich sehen wollten?«
    Leon stand auf. »Das würde ich Ihnen gerne zeigen.«
    Er schaltete den Fernseher per Fernbedienung an. Den altertümlichen Videorekorder darunter musste er per Hand aktivieren. Er hatte ihn erst vor einer Stunde aus dem Keller nach oben geschleppt, notdürftig abgestaubt, gereinigt und mit dem Flachbildschirm verkabelt. Ein Wunder, dass das klobige

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