Der Nachtwandler
ruckelten die Bilder weiter, es gab einen kurzen Schwenk nach oben zur Zimmerdecke, und als Nächstes trat Leon in die Lücke zwischen Sekretär und Schrank.
Mit einer Kraft, die er sich im wachen Zustand niemals zugetraut hätte, sah er sich im Schlaf den alten Bauernschrank zur Seite schieben.
Aber weshalb?
Leon stoppte die Aufnahme und sah nach links. Der Schrank, den sie als einziges Möbelstück beim Einzug übernommen hatten, weil Natalie ihn so schön gefunden hatte, wirkte auf einmal wie ein bedrohlicher Monolith, als ginge eine Gefahr von ihm aus.
Seine Knie zitterten, als er vom Stuhl aufstand.
Er konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieses schwere Ungetüm von ihm in der Nacht bewegt worden war. Leon kniete sich auf den Boden und erfühlte die Schleifspuren auf dem Parkett. Sie waren weder dezent noch frisch. Ganz im Gegenteil: Tiefe Furchen hatten sich wie Schienen in das Holz gegraben, so als wäre der Schrank schon oft und über einen längeren Zeitraum immer wieder hin- und zurückgeschoben worden.
Leon stand auf.
Wie zuvor auf der Aufnahme presste er beide Hände auf die Seitenwände des Schranks, atmete tief ein und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Zuerst wollte er sich keinen Millimeter bewegen, doch dann, im zweiten Anlauf, gelang es erstaunlich leicht.
Allerdings zog Leon sich einen Splitter ein, als seine Hände beim ersten Versuch abgerutscht waren, und er bereute beinahe, die Handschuhe ausgezogen zu haben.
Am Ende benötigte er nicht sehr viel länger als auf dem Video. Es knackte und ächzte im Schrankgebälk, und das Parkett protestierte kreischend, doch nach wenigen schweißtreibenden Sekunden hatte er das Ungetüm etwa anderthalb Meter zur Seite gerückt.
Und jetzt?
Schwer atmend trat er einen Schritt zurück – und schlug sich die Hand vor den Mund.
Das ist nicht möglich.
Ungläubig starrte Leon auf das Objekt in der Wand, das er soeben freigelegt hatte.
Ich muss halluzinieren.
Doch es gab keinen Zweifel.
Dort, wo eben noch der Schrank gestanden hatte, befand sich eine Tür, die er noch niemals in seinem Leben gesehen hatte.
11.
S iehst du das Tor, dort in der Wand?
Öffnet sich nur durch Geisterhand.
Plötzlich war die Melodie wieder da. Das Gedicht aus Kindertagen, eines von vielen, die sich Leons leiblicher Vater ausgedacht hatte, um seine ebenfalls erfundenen Gutenachtmärchen auszuschmücken, summte in Leons Kopf wie eine Fliege in einem Wasserglas.
Hinter dem Tor liegt ein Versteck.
Geh nicht hindurch, geh lieber weg.
Auch wenn er noch nie im Keller einer Großbank gewesen war, stellte Leon sich die Türen dort exakt so vor wie die, nach der er gerade die Hand ausstreckte. Sie wirkte wie die Schleuse zu einem Tresorraum, in dem wichtige Dokumente, Bargeld oder Goldbarren gestapelt lagen.
Willst du nicht hören, dann wirst du’s spüren,
Hinter dem Tor dich selbst verlieren.
Das metallbeschlagene Ungetüm war knapp einen Meter achtzig hoch, damit fast so groß wie er selbst, und wirkte viel zu schwer und klobig für den nietenbesetzten Rahmen, in dem es aufgehängt war. Dort, wo bei anderen Türen die Klinke war, hatte man sie mit zwei schräg versetzt angebrachten Drehschlössern ausgestattet, die man mit der ganzen Hand packen musste, um sie im Uhrzeigersinn bewegen zu können.
Noch niemals ist zurückgekehrt,
Wer die Schwelle nachts hat überquert.
Ratlos presste Leon die flache Hand auf das mysteriöse Türblatt. Eigentlich hätte er erwartet, ein Summen in seinem Kopf zu hören, verschwommene, schemenhafte Bilder vor den Augen tanzen zu sehen, Farben intensiver wahrzunehmen oder wenigstens einen verstörenden Duft zu riechen – irgendetwas, was ihm den beginnenden Verfall seiner Psyche signalisierte. Doch anscheinend stand er noch nicht an der Schwelle zwischen Wahn und Wirklichkeit. Er hatte nicht einmal einen schlechten Geschmack im Mund. Alles, was er sah und fühlte, jeder Sinneseindruck war zweifellos real: das kühle Türblatt, die vom häufigen Gebrauch abgenutzten Ziffern des Schließmechanismus … diese verdammte Tür in meinem Schlafzimmer!
Hinter dem Schrank.
Sie existiert. Sie ist kein Traum.
Oder doch?
Leon drehte sich um und sah zum Bett in der Angst, sich selbst dort schlafend zu beobachten, doch das Laken war zerknüllt, die Matratze leer. Dann fiel sein Blick auf die Kamera zu seinen Füßen, die ihm beim Schlafwandeln heruntergefallen sein musste, und das erinnerte ihn an das Video.
Mit zwei schnellen Schritten
Weitere Kostenlose Bücher