Der Nachtwandler
den Arm so weit wie möglich nach vorne und leuchtete den Tunnel aus, der sich hinter der neu entdeckten Öffnung erstreckte. Wegen des schmalen Zugangs vermutete er eine ebenso enge Röhre, die sich daran anschloss, doch als er nach oben leuchtete, stellte er fest, dass das Licht auf keinen Widerstand traf, was dafür sprach, dass er, sobald er erst einmal durch die Pforte gekrochen war, in dem dahinterliegenden Raum wieder aufrecht stehen konnte.
Aber will ich das überhaupt?
Leon sah nach oben, den Schacht hinauf zu dem Licht, das aus seinem Schlafzimmer herunterfiel, und fühlte sich schon jetzt wie ein Verschütteter, zu dem nur noch schwache Signale der Außenwelt dringen.
Er stand auf und rüttelte erneut an den Sprossen, die bis auf die eine, auf der er das Gleichgewicht verloren hatte, fest im Gemäuer steckten. Die Rückkehr sollte also kein Problem darstellen, wenn er sich hier unten nicht verlief.
Und anscheinend kenne ich den Weg ja im Schlaf.
Die Stimme der Vernunft in ihm schrie danach, wieder nach oben zu klettern und Hilfe zu holen. Aber was, wenn sich hier unten etwas Schreckliches ereignet hatte? Etwas, an dem er maßgeblich beteiligt war.
Etwas, an dem ich Schuld trage?
Leon kannte das Gefühl, das er nun nicht mehr zu ignorieren vermochte. Wie eine Grippe hatte es mit Symptomen begonnen, die man anfangs verdrängen kann, die sich aber schon bald nicht mehr unterdrücken lassen und irgendwann den gesamten Körper im Klammergriff halten: Er hatte Angst. Und das vor einer konkreten Person, die sich hier unten aufhielt und der er noch nie zuvor in seinem Leben begegnet war, obwohl sie sich immer in seiner Nähe befand: Er hatte Angst vor sich selbst. Vor seinem zweiten, schlafenden Ich.
Somit war es am Ende paradoxerweise die Stimme der Feigheit, die ihn davon abhielt, die Hausverwaltung, Sven, Dr. Volwarth oder gar die Polizei zu informieren.
Leon wollte erst wissen, was ihn hier unten erwartete, bevor er Unterstützung holte. Und er rechnete mit dem Schlimmsten, als er mit dem Kopf voran durch die schmale Pforte hindurch in die Finsternis kroch.
16.
E s war der kaum wahrnehmbare Geruch nach frischer Wäsche, der Leon so unvermittelt in die Nase stieg, dass er für einen Moment innehalten musste. Von einer Sekunde auf die andere befand er sich nicht länger in der Zwischenwelt, die er durch seinen Schrank betreten hatte, sondern in seiner Kindheit.
Er war zehn Jahre alt gewesen, damals hieß er noch Wieler mit Nachnamen, als ihm sein leiblicher Vater Roman zum ersten Mal die Legende von den Unternächten erzählte. Später machte Sarah Wieler ihrem Mann deswegen große Vorwürfe. Sie war der Meinung, derartige Schauergeschichten seien nichts für Kinder in Leons Alter und würden seine Schlafstörungen nur noch verschlimmern. Und sie sollte recht behalten. Noch in derselben Nacht träumte Leon von Rauhgeistern im Schrank und dem Unglück, das diese schon über so manche Familie gebracht hatten.
»Weißt du, weshalb deine Mama zwischen Weihnachten und Neujahr keine Wäsche wäscht?«, hatte Roman das Schauermärchen begonnen, und Leon hatte instinktiv nach der Hand seines Vaters gegriffen, als hätte er Angst, allein die Antwort könnte ihn ins Stolpern bringen.
Wann immer er daran zurückdachte, so wie jetzt auf allen vieren in der Dunkelheit, war ihm jedes Detail dieses Sonntagsspaziergangs präsent: der kalte Wind im Gesicht, der Schnee unter den Stiefeln, ihre ineinander verschränkten, behandschuhten Finger, die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern der Nachbarn.
»Du hast vermutlich noch nie etwas von den Rauhgeistern gehört, oder? Sie leben das gesamte Jahr im Verborgenen. Es gibt nur eine Zeit, zu der sie sich vorwagen. Und die beginnt in wenigen Tagen. In den Unternächten, so nennt man die Zeit zwischen den Jahren.«
»Was tun diese Geister denn?«, wollte Leon wissen.
Sein Vater nickte, als hätte er eine besonders kluge Frage gestellt.
»Sie sind das Gegenteil von Schutzengeln. In den Häusern, in denen sie wohnen, zieht das Pech ein. Und dieser Tage sind sie wieder auf der Suche nach einer neuen Familie.«
»Kommen sie auch zu uns?«
»Nur, wenn wir die Waschmaschine benutzen. Das wissen nämlich die wenigsten: Rauhgeister brauchen nasse Wäsche zum Überleben. Sie kriechen in die feuchten Laken, in Socken oder in deine Hose, und wenn alles getrocknet ist, bleiben sie ein Jahr daran haften.«
Leon wusste bis heute nicht, aus welcher Region der Welt dieser
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