Der Nachtwandler
Aberglaube stammte, aber nach jenem Spaziergang hatte er penibel darauf geachtet, dass seine Anziehsachen in den kommenden Tagen nicht einmal in die Nähe des Waschkellers kamen.
Umso entsetzter war er gewesen, als er an Silvester die Blusen seiner großen Schwester auf der Wäscheleine entdeckte, die ihn auslachte, als er sie anflehte, die feuchten Kleidungsstücke sofort aus dem Haus zu entfernen.
Von jenem Tag an lebte er in der irrationalen Gewissheit eines Zehnjährigen, der fest davon ausging, dass das Böse in seinem Schlafzimmer eingezogen sei. Alle Beschwichtigungsversuche seiner Eltern blieben erfolglos.
Es dauerte Monate, bis seine Mutter vor dem Lichtausmachen nicht mehr unter dem Bett oder im Schrank nachsehen musste, ob sich dort womöglich ein Rauhgeist versteckt hielt. Erst in der Nacht zum siebten Mai hatte Leon sich wieder vollständig beruhigt und zum ersten Mal nicht mehr an die Unternächte gedacht. Er konnte sich deshalb so genau an das Datum erinnern, weil es die Nacht vor dem Unfall gewesen war.
Schicksal?
Leon schüttelte sich vor Kälte, die ihm wegen seiner starren Haltung auf dem harten Untergrund in die Glieder gefahren war, und riss sich aus seiner erinnerungserfüllten Paralyse. Seit dem Unfall hatte er keine Wäsche mehr zwischen den Jahren gewaschen. Umso verstörender war es für ihn, ausgerechnet hier unten mit dem Duft von Weichspüler und Waschmittel konfrontiert zu werden. Wer immer dafür verantwortlich war, kannte die Legende von den Unternächten nicht.
Oder er ignorierte sie.
Leon aktivierte wieder das Display des Handys, dessen Bildschirmschoner sich in die Dunkelheit verabschiedet hatte, und bemerkte, dass er nicht länger zu kriechen brauchte. Der schwache Wäscheduft war ebenfalls verschwunden, oder vielleicht roch Leon ihn auch nur nicht mehr, da seine Sinne vollständig davon in Beschlag genommen wurden, die neue Umgebung zu erkunden.
Der Gang, der sich vor ihm erstreckte, wirkte, als wäre er mit grobem Gerät wie ein Bergwerksstollen in den Stein getrieben worden. Pechschwarze, unebene Wände verliefen in unregelmäßigen Abständen zueinander. Auch die Deckenhöhe veränderte sich, und er musste die Hand nach oben strecken, um nicht Gefahr zu laufen, gegen einen Vorsprung zu stoßen.
Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich merkwürdig an. Er federte beim Gehen leicht nach wie ein Waldweg, und als Leon sich hinkniete, konnte er etwas Erde lösen. Die Strecke verlief abschüssig, was das unangenehme Gefühl verstärkte, sich einer Unterwelt zu nähern, die man besser nicht betreten sollte.
Mit jedem Schritt wuchs Leons Anspannung, die mittlerweile so heftig war, dass er sich einbildete, eine feine Vibration zu verspüren, die sich im gesamten Körper ausbreitete.
Er war kein Klaustrophobiker, aber im Augenblick konnte er sich sehr gut in Menschen hineinversetzen, die enge Räume mieden. Wann immer das Handy aussetzte und er für den Bruchteil einer Sekunde in kompletter Finsternis stand, war es, als schlage ihm die Dunkelheit ins Gesicht. Dann spürte er das Herz in der Brust hämmern, hörte das Blut in den Adern rauschen und fühlte, wie sein Mund trocken wurde.
»Natalie?«, rief er zaghaft, als er am Ende des Gangs angelangt war und vor einer Gabelung stand. Den Namen seiner Frau zu rufen hatte vermutlich ähnlich geringe Erfolgsaussichten, wie das Tunnelsystem hier unten auf eigene Faust zu erkunden. Aber was sollte er sonst tun? Zurückgehen? Nach oben? Volwarth anrufen? Oder die Hausverwaltung?
Er kam zu dem Schluss, dass das vermutlich keine so schlechte Idee war, wie er anfangs gedacht hatte. Zumindest konnte er jetzt einen Beweis präsentieren, dass es sehr wohl einen zweiten Zugang zu seiner Wohnung gab, der vermutlich aus gutem Grund in keinem Bauplan verzeichnet war.
Aber wer hat ihn angelegt? Und weshalb? Und was hat Natalies Handy hier unten zu suchen?
Leon leuchtete nach rechts, in den kürzeren Teil des Abzweigs. Schon nach wenigen Schritten endete der Weg an einer Mauer, an der ein Warnschild hing: »ACHTUNG« stand in einer altertümlichen Schrift darauf, direkt über einem Piktogramm, das mit einem Blitz vor elektrischer Hochspannung warnte.
Leon beschloss, sich erst einmal mit Dr. Volwarth in Verbindung zu setzen. In ihm hätte er einen Zeugen, der beweisen konnte, dass er nicht halluzinierte. Da fiel ihm ein, dass der Psychiater längst im Flieger nach Tokio sitzen musste.
Dennoch wollte er umkehren, schon aus Angst, sich
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