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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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hier unten zu verlaufen. Wer wusste schon, wie viele Abzweigungen es noch gab? Am Ende war er in ein Labyrinth geraten. Immerhin war der Architekt dieses Hauses, Albert von Boyten, auch als genialer Landschaftskünstler bekannt geworden, dessen kunstvoll gestaltete Irrgärten weltweit für Aufsehen gesorgt hatten. Hatte er am Ende auch dieses Haus mit einem Irrgarten versehen, nur nicht aus mannshohen Hecken, sondern aus Stein geformt?
    Leon rief noch einmal den Namen seiner Frau, bevor er den Rückweg antreten wollte, doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn auf einmal begriff er, dass er sich geirrt hatte. Die Vibration, die er bislang als Sinnestäuschung abgetan hatte, war real. Sie existierte – und zwar nicht inner-, sondern außerhalb seines Körpers, und plötzlich konnte er sie nicht nur fühlen, sondern auch hören.
    Leon legte den Kopf schräg und ging einen Schritt auf die Klangquelle zu, in den längeren Gang des Abzweigs hinein. Das Licht des Handydisplays hatte einen leichten Grünstich, was es noch schwerer machte, etwas zu erkennen. Wenn Leon sich nicht irrte, waren die Wände in diesem Teil des Tunnels glatt und eben.
    Vorsichtig, als könnten sie unter Strom stehen, tastete er zu beiden Seiten: Zu seiner Linken spürte er eine gleichmäßige Oberfläche. Zu seiner Rechten war das Mauerwerk mit etwas gröberem Material verkleidet.
    Mit jedem Schritt wurden die Hintergrundgeräusche lauter. Leon vermutete, dass es unhörbare, tiefe Bässe waren, die in regelmäßig wiederkehrenden Abständen jene Vibrationen erzeugten, die sich von den Wänden auf ihn übertrugen.
    Und was zum Teufel ist … das?
    Er war erst wenige Meter gegangen, als er auf eine Türklinke stieß.
    Leon leuchtete mit dem Handy zur Wand, und tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht. Auf der rechten Seite des Gangs war eine Tür eingelassen, die gerade deshalb so verstörend wirkte, weil sie so normal aussah.
    Er drückte die Klinke, die erstaunlich warm in seiner Hand lag, und rechnete mit einem Quietschen oder Knarren, doch die Tür ließ sich beinahe lautlos öffnen. Im gleichen Atemzug erstarben die Geräusche um Leon herum, die Vibrationen verebbten.
    Offenbar war die Tür oft in Gebrauch; die Scharniere gut geölt.
    Der Raum, den er betrat, war kaum größer als Natalies Dunkelkammer und erinnerte ihn an die mit Sperrholzplatten verkleideten Verschläge, die jedem Mieter als Kellerzelle zugewiesen waren und in denen man seine Fahrräder hochkant stellen musste, damit sie hineinpassten.
    Leons erster Gedanke war, dass er auf das Nachtlager eines Obdachlosen gestoßen war. Das Licht des Telefondisplays wanderte über eine zerschlissene Matratze am Boden, einen halboffenen Umzugskarton und mehrere Plastiktüten, deren Inhalt er besser nicht erforschen wollte. Dem Geruch nach enthielten sie verdorbene Lebensmittel und anderen Hausmüll.
    Leon verhedderte sich mit dem Fuß in einem zusammengeknüllten Laken. Als er sich bückte, um es abzustreifen, sah er, dass auch der Umzugskarton voll mit Gegenständen war, von denen er einen sofort wiedererkannte.
    Das gibt es doch nicht …
    Er griff nach dem Wasserkocher, den er eben noch in seiner Küche gesucht hatte. Zu Leons Erstaunen war er bis zum ersten Markierungsstrich gefüllt, als wäre der Kocher hier unten vor nicht allzu langer Zeit benutzt worden.
    Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn.
    Leon suchte nach einem Stromanschluss. Direkt neben der Tür entdeckte er eine Mehrfachsteckdose in der Wand. Darin steckte eine kleine Tischlampe, die ihm ebenfalls bekannt vorkam. Es war ein billiges Gerät, ohne Schirm und Fuß, nicht mehr als eine durch einen biegsamen Stiel verlängerte Glühbirne. Wenn Leon sich nicht täuschte, hatte Natalie sie in ihrer WG als Nachttischlampe benutzt und nie aus dem Umzugskarton ausgepackt.
    Er knipste den Schalter an. Die Glühbirne leuchtete, wenn auch nur matt, und ihr Licht brachte eine Szenerie zum Vorschein, die Leon mehr und mehr an seinem Verstand zweifeln ließ.
    Rechts neben der Tür stand ein alter Gartenstuhl mit verrostetem Rahmen. Die Sitzfläche war mit dem Werbeprospekt eines Elektronikmarkts ausgelegt, unter dem sich eine zigarrenförmige Ausbuchtung andeutete.
    Leon formte mit Zeigefinger und Daumen eine Pinzette und zog den Prospekt vom Stuhl, wodurch er einen Stapel weißen Papiers freilegte, von der Sorte, die er oben in seinem Arbeitszimmer für die Modellskizzen verwendete. Und auf dem obersten Blatt, genau in der Mitte

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