Der Nachtwandler
den dampfenden Tee einschenkte.
Leon verkrampfte.
»Es ist das Haus, wissen Sie. Hätten Sie vor Ihrem Einzug mit mir geredet, hätte ich Sie gewarnt.«
»Wovor?«
Sie setzte die Kanne auf einen Untersetzer zurück und verschränkte die Hände im Schoß, die Spitzen ihrer Daumen trommelten gegeneinander und erinnerten Leon an die Köpfe der züngelnden Schlangen auf ihrem Rücken.
»Es hat Augen, wissen Sie? Das Haus, meine ich. Haben Sie nicht auch oft das Gefühl, beobachtet zu werden? Manchmal werde ich nachts wach und denke, es sitzt jemand an meinem Bett. Dann schalte ich das Licht an, aber natürlich ist da niemand. Doch ich kann das Gefühl nicht abstreifen. Manchmal sehe ich sogar im Schrank nach, ich dumme Gans, und kann erst wieder einschlafen, wenn ich mich vergewissert habe, dass dort niemand ist.«
Sie schüttelte beim Reden den Kopf, wie es ältere Menschen oft unbewusst tun, und Leon hoffte, darin nicht die ersten Anzeichen von Parkinson zu erkennen.
»Mein Gott, jetzt halten Sie mich sicher für eine verrückte alte Schachtel.«
»Nein, ganz und gar nicht«, entgegnete Leon und dachte mit Beklemmungen daran, wie er sie selbst erst vor wenigen Minuten im Badezimmer ausspioniert hatte. Dann fiel ihm der Wäscheständer ein, die nassen Laken, die darauf gehangen hatten, die Unternächte, in denen sie sich befanden, und die Rauhgeister, die sich gerade eine neue Wirkstätte suchten.
Er nahm einen Schluck von dem Tee und versuchte, sich auf den angenehm weichen Geschmack zu konzentrieren, um seinen Gedanken einen Halt in der Wirklichkeit zu geben.
»Mein Arzt sagt, das sei alles Einbildung und rühre von meinen Verlustängsten, seit Richard hier ausgezogen ist.«
»Richard?«
»Mein Mann. Eines Tages hat er seine Koffer gepackt und mich ohne ein Wort des Abschieds verlassen.«
Ivana genoss wieder Leons volle Aufmerksamkeit, dazu brauchte sie die Parallele zu Natalies fluchtartigem Auszug nicht einmal direkt anzusprechen.
»Wissen Sie, weshalb er fortgegangen ist?«
»Es ist dieses Haus. Albert von Boyten wollte eine Villa Kunterbunt erschaffen, offen für Freunde und Verwandte, die hier mietfrei wohnen durften. Nur deshalb habe ich, eine mittellose Malerin, diese Wohnung überhaupt bekommen. Mit den zwei verkauften Bildern im Monat und meinem Nebenverdienst als Krankenschwester hätte ich mir die Miete in dieser Gegend niemals leisten können. Ich durfte sogar bleiben, nachdem wir unsere offene Beziehung beendet hatten und ich nicht länger seine Muse war.«
Leon deutete auf das Gemälde über dem Kamin. »Haben Sie das gemalt?«
»Ja. Das war noch in unserer wilden Phase. Albert hatte viele Frauen, und mir machte das nichts aus. Ich kenne keinen Künstler, der nicht ein ausschweifendes Sexualleben führt. Wenn nicht aktiv, dann im Geiste. Auch Richard, den ich auf einer von Alberts Partys kennengelernt habe, ein Theaterintendant, störte sich nicht an meiner Liaison mit dem Stararchitekten. Eine Zeitlang, da wohnten wir schon hier, entwickelte sich eine regelrechte ménage à trois.«
Ivana lächelte so verschmitzt wie vorhin, als sie Leon im Flur ihr Verhältnis zu von Boyten eingestanden hatte.
»Offensichtlich hatte Ihr Gönner ein Faible für kreative Menschen«, sagte Leon.
»O ja. In seinem Testament hat er sogar verfügt, dass immer eine Mindestanzahl von Künstlern in diesem Haus beherbergt werden muss.«
Leon nickte. Das erklärte, weshalb Natalie und er den Zuschlag bekommen hatten.
»Das Haus sollte eine kreative Oase sein. Am Ende hat es ihm nur Unglück gebracht.«
Sie nahm ihre etwas zu groß geratene Brille ab und kaute an dem Kunststoffbügel. »So wie jedem seiner Bewohner.«
Leon hob die Augenbrauen. »Wie meinen Sie das?«
»Die hübsche Frau vor Ihnen zum Beispiel. Die Arme stürzte in den Aufzugsschacht und starb. Damit setzte sie eine endlose Kette tragischer Ereignisse fort.«
Leon nickte, während er sich an die im Nachhinein sehr zynisch wirkenden Worte des Hausverwalters am Telefon erinnerte.
»Ihre Vormieterin war blind. Die hat es nicht einmal geschafft, den Fahrstuhl richtig zu bedienen, geschweige denn, einen Eingang in ihr Schlafzimmer zu zimmern.«
»Ich bin keine Statistikerin, aber im Laufe der Jahre, die ich hier nun schon lebe, sind ungewöhnlich viele Mieter eines unnatürlichen oder zumindest frühzeitigen Todes gestorben. Einige haben Selbstmord begangen oder sind in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden – so wie
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