Der Nachtwandler
Albert.«
»Von Boyten?«
Sie nickte. »Die Biographen schreiben alle, Albert von Boyten hätte sich, seinem exzentrischen Wesen entsprechend, an einen unbekannten Ort zum Meditieren zurückgezogen. Aber es war kein selbstgewähltes Exil, sondern eine private Nervenheilanstalt, in der er vor einigen Jahren in geistiger Umnachtung verstorben ist.«
»Und sein Sohn hat das Haus geerbt?«
»Ganz genau. Aber glücklich wurde auch er nicht damit.«
»Was ist passiert?«
Ivana zögerte. Es war, als haderte sie mit sich, ob sie dieses Geheimnis weitererzählen dürfte.
»So genau weiß das keiner. Seine Wohnung war von innen verschlossen und verriegelt. All seine Habseligkeiten, sein Bargeld, Kleider und Pässe waren noch an Ort und Stelle. Das Einzige, was fehlte und nie wieder auftauchte, war er selbst. Es war, als hätte ihn seine eigene Wohnung verschluckt.«
Kein Wunder, dass die Hausverwaltung keinen Kontakt herstellen will. Es ist ihr gar nicht möglich.
»In welcher Wohnung hat Siegfried gewohnt?«, fragte Leon, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.
»Ich will Ihnen mit meinen Schauermärchen wirklich keine Angst einjagen, Leon. Aber es war im dritten Stock, Ihr Appartement. Ich sagte ja, ich hätte Ihnen abgeraten, wenn Sie vor der Unterzeichnung des Mietvertrags zu mir gekommen wären.«
Ivana legte den Kopf in den Nacken und deutete zu der Zimmerdecke. »Hören Sie das?«
Er schüttelte den Kopf, doch dann erkannte er die Tonleitern, die hier unten im zweiten Stock sehr viel gedämpfter ankamen als in seiner Etage.
»Dieser Tareski ist der Nächste, der durchdreht, fürchte ich. Immer und immer wieder übt er dasselbe Stück. Das ist doch nicht normal, oder?«
Leon zuckte mit den Achseln. Nach allem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, war er ganz sicher nicht in der Position, um normales von irrationalem Verhalten zu unterscheiden.
»Oder denken Sie nur an die Falconis im ersten Stock«, fuhr Ivana fort.
»Was ist mit denen?«
»Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die beiden peinlich genau darauf achten, ihre Tür stets verschlossen zu halten, sobald jemand daran vorbeigeht? Und wenn man klingelt, stecken sie gerade mal so den Kopf heraus, damit man ja nicht hineinspähen kann. Ich hab letztens den Fehler gemacht und die Post für die beiden angenommen, ein schweres Paket, das ich ganz alleine nach unten geschleppt habe. Glauben Sie, die haben mir gedankt?« Ivana Helsing rührte energisch mit dem Löffel in ihrem Tee.
»Nicht einmal aufgemacht haben sie mir. Ich sollte das Paket einfach abstellen und verschwinden.«
»Das ist merkwürdig.«
»Ja, in der Tat. Wüsste zu gerne, was die zu verbergen haben. Manchmal denke ich … Ach was …«
Sie winkte ab und lächelte verlegen.
»Was denken Sie?«
»Nicht der Rede wert, ich bin eine alte Tratschtante, ich plappere zu viel. Wollen Sie noch Tee?«
Sie griff nach der Kanne.
»Nein, danke sehr.« Leon wollte auf seine Uhr sehen, bemerkte aber zu seinem Erstaunen, dass sie sich nicht mehr am Handgelenk befand. Während er noch darüber nachdachte, ob er sie abgemacht oder verloren hatte, piepte Natalies Handy in seiner Brusttasche, gedämpft durch die blutige Bluse, die er sich in den Overall gesteckt hatte. Das Warnsignal des sich weiter entleerenden Akkus war wie ein Weckruf.
»Haben Sie vielen Dank für den Tee, Frau Helsing, und entschuldigen Sie noch einmal meinen überfallartigen Auftritt bei Ihnen, aber ich fürchte, ich muss jetzt wirklich gehen.«
»Natürlich, selbstverständlich«, sagte Ivana mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme, der erkennen ließ, dass sie nicht oft jemanden zum Sprechen hatte und noch seltener jemanden, der ihr zuhörte. »Lassen Sie sich durch mich bitte nicht aufhalten.«
Sie begleitete ihn zur Haustür, wo sie einen Augenblick verwundert auf die von innen vorgelegte Kette sah, und Leon rechnete fest damit, dass sie ihn zur Rede stellen würde, weshalb ihm vorhin nicht schon beim Abschließen der Wohnung aufgefallen war, dass er sich im falschen Stock befand. Immerhin hing eine fellbesetzte Damensteppjacke auf der Innenseite der Tür, aber Ivana sagte nur leise: »Tun Sie mir einen Gefallen, Leon.«
»Ja?«
»Sie scheinen ein guter Junge zu sein. Machen Sie es besser als ich.«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
Sie sah durch den Türspion, dann fügte sie leise hinzu: »Dieses Haus ist wie ein Magnet. Es hält Sie mit aller Macht fest. Und je länger
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