Der Nachtwandler
Sie bleiben, desto schwieriger wird es, davon loszukommen.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht«, lachte Leon gekünstelt.
»Nur wenige haben die Willensstärke und schaffen den Auszug. So wie Richard. So wie Ihre Frau.«
»Sie wissen doch gar nichts von mir und Natalie«, entfuhr es ihm etwas brüsker als beabsichtigt.
Ivana zog die Tür auf und überprüfte rasch, ob sich jemand im Treppenhaus befand. Dann flüsterte sie mit konspirativer Miene: »Das mag sein, aber ich bin zu alt, um ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen, daher rate ich Ihnen ganz direkt: Machen Sie nicht denselben Fehler wie ich. Warten Sie nicht darauf, dass sie zurückkommt, sondern tun Sie es ihr nach.«
»Ich soll ausziehen?«
Ivana schenkte ihm einen beredten Blick. »Erst kommen die Träume, dann die Taten, Leon. Verschwinden Sie, solange Sie noch können. Wenn Sie zu lange bleiben, wird das Haus Sie verändern und das Böse in Ihnen von innen nach außen kehren.«
Sie griff nach seiner Hand und trat so dicht an Leon heran, dass dieser die feinen Haare auf ihrer ausgetrockneten Oberlippe erkennen konnte. Warmer, abgestandener Atem schlug ihm entgegen, als sie ihn mit dieser mysteriösen Prophezeiung verabschiedete: »Erst die Träume, dann die Taten. Warten Sie nicht zu lange, sonst können Sie sich nicht mehr dagegen wehren.«
22.
W ährend Leon die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, überlegte er, was er als Nächstes unternehmen musste, wenn er nicht vollständig den Verstand verlieren wollte. Viel Zeit zum Nachdenken sollte ihm nicht bleiben. Unmittelbar nachdem er auf dem Absatz zwischen den Stockwerken um die Ecke bog, schallte ihm sein Name entgegen.
»Herr Nader?«
Leon sah nach oben und nahm die nächste Stufe langsamer. Der Mann vor seiner Haustür hatte etwas Einschüchterndes an sich, und Leon hätte nicht zu sagen vermocht, ob es an seiner kräftigen Statur lag, dem Gestapo-Mantel oder an der durchsetzungskräftigen Stimme. Wie so oft bei Männern, denen die Haare ausgehen, war das Alter des Besuchers schlecht zu schätzen, auf jeden Fall war er der Vierzig näher als der Dreißig und befand sich damit in einem Altersspektrum, in dem Geheimratsecken und schütteres Haupthaar nicht unbedingt zu Lasten der Attraktivität gingen.
»Leon Nader?«
»Ja. Der bin ich«, antwortete Leon mit einem Nicken und nahm die letzte Stufe.
Der Fremde machte ein seufzendes Geräusch, das man nur als ein »Na endlich« interpretieren konnte, und zog seine Dienstmarke hervor.
»Kroeger, Kriminalpolizei«, sagte er und reichte ihm die Hand. Im Halbdunkel des Flurs musste Leon nicht befürchten, dass der Polizist erkannte, wie dreckig seine Hände waren, dennoch war ihm regelrecht flau vor Nervosität.
Nach all den unerklärlichen Ereignissen war ein Ordnungshüter die letzte Person, die er in seiner Nähe wissen wollte. Gerade noch hatte er darüber nachgedacht, Sven anzurufen. Er benötigte einen Verbündeten, einen Freund an seiner Seite. Niemanden, dessen Beruf es war, die dunkelsten Geheimnisse aufzuspüren und zum Nachteil ihrer Besitzer ans Tageslicht zu zerren.
»Gibt es ein Problem?«
»Sie kommen gerade von der Arbeit?«, sagte der Polizist, als hätte er Leons Frage gar nicht gehört.
»Ja, das heißt, nein.«
Leon wischte sich die verschwitzten Haare aus der Stirn, dann deutete er an seinem Blaumann herab zu den Bauarbeiterstiefeln.
»Ich renoviere gerade«, sagte er in der Hoffnung, damit seinen derangierten Aufzug zu erklären.
Der Polizist sah ihn mit Augen an, deren in verschiedenen Grüntönen gescheckte Färbung am ehesten mit der einer Tarnjacke vergleichbar war. Leon wich seinem Blick aus.
»Ich habe es vor einer Stunde schon einmal bei Ihnen versucht, Sie haben nicht aufgemacht. Ihre Klingel ist hinüber.«
Kroeger drückte zum Beweis auf den Messingknopf neben der Tür, und tatsächlich war im Inneren der Wohnung nichts zu hören.
»War kurz in der Gegend was essen und wollte jetzt zum zweiten Mal mein Glück versuchen.«
»Haben Sie vorhin geklopft?«, fragte Leon in Erinnerung an die Geräusche, die er gehört hatte, als er in den Schacht geklettert war, und bereute sofort seine unbedachte Bemerkung.
»Wieso haben Sie nicht aufgemacht, wenn Sie es gehört haben?« Kroeger musterte ihn misstrauisch.
»Mir ging es nicht gut. Ich war auf der Toilette.«
Unbewusst wich der Beamte einen Schritt zurück und wischte sich die Hand an seinem Mantel ab. Offenbar bedauerte er, sie jemandem gegeben zu
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